Antrag Nr. 15-0269/2019:
Benennung der Grünverbindung in Davenstedt-West in „Neutral-Moresnet“

Inhalt der Drucksache:

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Benennung der Grünverbindung in Davenstedt-West in „Neutral-Moresnet“

Antrag

Der Bezirksrat möge beschließen:

Die Grünverbindung zwischen Sickenberghof und Davenstedter Straße in Davenstedt-West erhält ab sofort die Bezeichnung „Neutral-Moresnet“ und es werden entsprechende Hinweisschilder aufgestellt.

Die genaue Lage ist wie folgt:
Im Westen von der Davenstedter Straße aus entlang der östlichen und südlichen Grundstücksgrenzen der Straße Basaltweg weiter in nordöstlicher Richtung entlang der südlichen Grundstücksgrenzen der Straßen Granit-, Jura-, Lias-, Dogger- und Malmweg sowie weiter westlich entlang der westlichen und südlichen Grundstücksgrenze des Grundstücks „Droehnenstr. 35“ bis zum Beginn des Fußweges Sickenberghof im Osten. Die südliche Begrenzung von „Neutral-Moresnet“ wird gebildet (von Ost nach West) durch die nördlichen Bau- und Grundstücksgrenzen und Zuwegungen der Grundstücke „Martinihof 39-65“
(ungerade Hausnummern) sowie der Straßen Keuper-, Sandstein-, Quarz-, Perm- und Zechsteinweg incl. dem Kinderspielplatz bis hin zum Zugang zur Davenstedter Straße.

Die Fläche hat zur Zeit keine eigene Bezeichnung und wird im rechtsverbindlichen Bebauungsplan 958 – Änderung 0 als Grünverbindung bezeichnet (vgl. Anlage).

Begründung

Das historische Gebiet „Neutral-Moresnet“ entstand bei der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress nach dem napoleonischen Erdbeben. Es existierte völkerrechtlich von 1816 bis 1919 und steht somit für eine im westlichen Mitteleuropa des 19. und 20. Jahrhunderts vollkommen atypische Ära eines fast einhundertjährigen Friedens. Aufgrund der unnachgiebigen Haltung Preußens und der Vereinigten Niederlande, geprägt von Habgier, Neid und Missgunst (heute: „my country first“) über den Besitz der damals größten europäischen Galmei vorkommen(1) kam dieses völkerrechtliches Kuriosum namens „Neutral-Moresnet“ zustande: Galmei, heute würde man Flusszinkspat sagen, ist eine Erzmischung aus Zinkkarbonat und Zinksilikat(8), aus dem Zink gewonnen und Messing hergestellt wird. Durch den Bodenschatz Galmei ist die direkte Verbindung zu den umgebenden Straßennamen mit geologischen Bezug in Davenstedt-West gegeben. Das Gebiet von Moresnet wurde 1816 in einem Vertrag von Aachen geteilt. Der östliche Teil, Neu- oder Preußisch-Moresnet ging an Preußen, der westliche Teil, Alt- oder Moresnet-Chapelle kam zu den Niederlanden – später zu Belgien und das mittlere Gebiet von Neutral-Moresnet wurde mit einer gemeinsamen Verwaltung neutralisiert. Das Gebiet war nur etwa 3,4 KM² groß und hatte die Form eines Tortenstückes, eines Kreisausschnittes: Horizontal gespiegelt über den nördlichen Punkt in der Form eines analogen „Fünf für zwölf“. Diner nördliche Punkt lag genau dort, wo heute das Land Nordrhein-Westfalen, die niederländische Provinz Limburg und aus Belgien die französischsprachige Provinz „Wallonie“ und die „deutschsprachige Gemeinschaft“ zusammenkommen. Die südliche Begrenzung war die alte Heerstraße von Köln nach Lüttich, über die der europäische Ost-West-Verkehr zwischen den Metropolen St. Petersburg und Moskau im Osten über Hannover Richtung Paris und Madrid bzw. Brüssel, Antwerpen und London abgewickelt wurde.

Es war entmilitarisiert, hatte keine Wehrpflicht (galt seit 1875 nicht mehr für Deutsche), aber zwei Staatsoberhäupter (den preußischen und den niederländischen König, später waren es der deutsche Kaiser und der belgische König). Amtssprachen waren deutsch und französisch. Offizielle Währung war der französische Franc. Als Zeichen der Unabhängigkeit galt weder preußisch/deutsches noch niederländisch/belgisches Recht, sondern die von Napoleon I. 1804 in Frankreich und den später eroberten Gebieten eingeführten Code Civil und Code Penal. Mangels eigener Gerichtsbarkeit in Neutral-Moresnet urteilten deshalb noch im 20. Jahrhundert deutsch-kaiserliche Gerichte über Vergehen in Neutral-Moresnet nach napoleonischem Recht mit dem Grundsatz „Egalite, Liberte, Fraternite“. Somit ist diese Namensgebung eine Erinnerung an die Vielfalt deutsch-französischer Geschichte, die wir hier und heute in unserem Stadtbezirk mit der Freundschaft zu Petit-Couronne leben. Es galt aber auch das 1791 in Frankreich erlassene Verbot von Arbeitnehmerorganisationen, was nach der bismarckschen Sozialgesetzgebung in Deutschland neue Argumente in der Diskussion um einen Anschluss an Deutschland oder Belgien ergab.

Neutral-Moresnet hatte bis zu 3 internationale Bahnhöfe(7) und war ein „sicherer Hafen“ für z.B. Kriegsdienstverweigerer(2) und alleinerziehende Mütter aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Mobilität ist die Mutter jeglicher Entwicklung und Migration ist ein integraler Bestandteil von Mobilität. Die Bevölkerungszahl stieg enorm, weil es reichlich Arbeit gab, die Löhne verhältnismäßig hoch waren, und die Steuersätze von 1816 nicht oder nur geringfügig erhöht wurden.

Neutral-Moresnet hatte 1816 256 Einwohner, 1856 bereits 2575, und 1914 4.668.

Nach dem Ergebnis der Volkszählung vom 10. Juni 1901, setzte sich die Bevölkerung in Neutral-Moresnet wie folgt zusammen: Preußen: 1470 = 42,82 %, Belgier: 1169 = 34,05 % 'Neutrale': 438 = 12,76 % Niederländer: 353 = 10,28 % Sonstige: 3 = 0,09 % Summe 3433 = 100,00 % (8)

Wirtschaftlich betrachteten Deutschland und Belgien Neutral-Moresnet als Inland. Was den Wegfall von Einfuhrzöllen zur Folge hatte, und dank der Gewerbefreiheit, die der napoleonische Code Civil garantierte, zur Entstehung von 71 Schnapsbrennereien mit entsprechend vielen Kneipen.

Um den Branntweinmissbrauch einzuschränken, ließ die Bergwerksgesellschaft sogar Rotwein aus Italien einführen (9). Exporte wurden besteuert, dafür gab es genau einen Zöllner. Es entstand in der Region eine Kultur des Schmuggels, die bis heute fest in der Bevölkerung verankert ist.

1907 wollte die internationale Esperanto-Bewegung aus Neutral-Moresnet den ersten Esperanto-Staat der Welt namens Amikejo (Ort der Freunde) schaffen und so verlegte 1909 der Weltbund der Esperantisten den Hauptsitz von Genf nach Neutral-Moresnet. Das mit dem Espearantostaat gelang nicht, aber hier bei uns ist aus der Grünverbindung mit seinen Rasenflächen und Sträuchern, den Bäumen und den Bänken mit Beleuchtung und dem Kinderspielplatz bereits heute ein Ort für Freunde geworden – ein Amikejo!

Das Ende von Neutral-Moresnet begann am 4. August 1914 morgens um 8 Uhr deutscher Zeit, 9 Uhr belgischer Zeit. Das erste Opfer des deutschen Überfalls auf Belgien war Neutral-Moresnet. Die Truppen des deutschen Generals Otto von Emmich fielen entlang der oben erwähnten Straße nach Lüttich und entlang der niederländischen Grenze unter Hurrarufen in Neutral-Moresnet und Belgien ein. Sie besetzten in einer „wahrhaftigen militärischen Glanzleistung“ ohne Verluste das entmilitarisierte Gebiet. Gegen 10h00 belgischer Zeit töteten sie westlich der Grenze in Gemmenich den ersten belgischen Soldaten des Krieges. Diesem Kriegsopfer ist dort ein Ehrenmal gewidmet, dem Kommandeur der Täter hier in Hannover ein Ehrengrab. Der hier bei uns in Hannover lange Zeit hochgeehrte General von Emmich setzte am nächsten Tag seine „militärischen Glanzleistungen“ fort, indem er sich bei der Belagerung von Lüttich den bis in die Nazizeit als ehrwürdig geltenden Kriegsnamen „Der Schlächter von Lüttich“ verdiente. Diese und andere „Heldentaten“ der deutschen Besatzer, die nach heute international anerkannten Abkommen als Kriegsverbrechen zu werten sind, haben sich so tief in die belgische Erinnerung eingegraben, dass der Tag der deutschen Kapitulation im 1. Weltkrieg, trotz der Schrecken, die Nazi-Deutschland 1939 beim zweiten Überfall auf Belgien verbreitete, heute noch der belgische Nationalfeiertag ist (9). Es ist der 11. November, ein Tag, der hier bei uns, im 11. Stadtbezirk von Hannover, noch ausbaufähig ist.

Neutral-Moresnet wurde 1915 von Deutschland annektiert und 1919 im Vertrag von Versailles (vorläufig?) endgültig in Belgien integriert.

Mit der Benennung des bisher namenlosen Gebietes als „Neutral-Moresnet“ erinnern wir an dieses ziemlich unbekannte Kapitel deutscher und europäischer Geschichte. 100 Jahre politischer Kontinuität und Frieden existierten im westlichen Mitteleuropa des 19 Jahrhunderts, länger als das deutsche Kaiserreich und die DDR zusammen. Länger als die Weltmacht Sowjetunion und/oder das sogenannte „Tausendjährige Reich“.
Nur die Bundesrepublik Deutschland hat im Verbund mit der EU noch Chancen, diesen europäischen Friedensrekord zu toppen. Von daher ist diese Namensgebung ein Bekenntnis zu Europa! Fürwahr ein historisches Zeitalter, dessen Erinnerung und Mahnung hier in Davenstedt-West zwischen den Erdzeitaltern und deren Erforschern einen würdigen Rahmen erhält. Wir erinnern uns an den Beginn, der von Neid, Habgier und Missgunst geprägt war und an das Ende, für das ein „Deutschland, Deutschland über alles“ verantwortlich ist und bei dem ein besonders in Hannover lange Zeit sehr geehrter Hannoveraner eine unrühmliche Rolle spielte. Wir erinnern uns daran, dass der Vorläufer der heutigen Europäischen Union, die Montan-Union, ein wirtschaftliches Gebilde zur Nutzbarmachung der vielfältigen Bodenschätze war, die uns die verschiedenen Erdschichten und -zeitalter anbieten. Und es ist uns eine Mahnung daran, dass die Maxime „My country first“ zu einem Exit aus der Gemeinschaft führt!

Diese Sünde der deutschen Vergangenheit möge uns eine Mahnung für die globale Zukunft sein und so soll diese Grünverbindung nicht nur für die Anwohner der umliegenden Straßen weiterhin ein „Ort der Freunde“ sein.

Diese Namensgebung wird nachhaltig wirken. Nachhaltig im Sinne des erklärten Zieles der „Rio Erklärung über Umwelt und Entwicklung“ in Rio de Janeiro von 1992(11) auf der u.a. die „internationale Agenda 21“ und das „Weltklimarahmenabkommen“ unterzeichnet wurden. Die Erreichung dieser Ziele wird in der aktuellen „Agenda 2030“ bekräftigt. Die Landeshauptstadt Hannover ist seit Jahren bemüht, mit dem Fokus auf „Umwelt“ die nachhaltigste Stadt Deutschlands zu sein. Hier, mit dieser Namensgebung, geben wir dem Faktor „Entwicklung“ Bedeutung in der Nachhaltigkeit und kommen den Zielen der Initiatoren der „Rio-Konferenz“ ein großes Stück näher.

Anwohnerinteressen wie z.B. Adressänderungen werden nicht berührt.

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weiterführende Links (zu den Quellenangaben):



weiterer Literaturhinweis:

Philip Dröge, NIEMANDSLAND – Die unglaubliche Geschichte von MORESNET, einem Ort, den es eigentlich gar nicht geben durfte, Piper Verlag (vgl. Anlage)


1 Anlage (3 Seiten mit Karten und Faksimiles)