ZEITmagazin ONLINE: Gibt es viele Menschen, die nicht masturbieren?

Ulrich Clement: Nein. Fast alle machen es, bis im höheren Alter das Verlangen etwas nachlässt. Und Männer machen es häufiger als Frauen.

ZEITmagazin ONLINE: Was meinen Sie mit häufiger? Dass mehr Männer als Frauen masturbieren oder dass der einzelne Mann es öfter tut als die einzelne Frau?

Clement: Beides. Fast alle Männer machen es und sie machen es im Durchschnitt erheblich öfter als die Frauen. Zwar masturbieren auch viele Frauen, aber eben deutlich seltener als Männer. In der Anzahl ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern also eher gering, in der Häufigkeit ist er dagegen beträchtlich.

ZEITmagazin ONLINE: Zahlen, bitte.

Clement: Laut Umfragen masturbieren 94 Prozent der Männer und 85 Prozent der Frauen. Erwachsene Männer zwischen 20 und 25 machen es ungefähr zehn Mal pro Monat, Frauen derselben Altersgruppe ungefähr ein Mal im Monat. Ältere entsprechend weniger. Interessant ist, dass dieser massive Unterschied in der Häufigkeit über die letzten Jahre recht konstant geblieben ist. Im gleichen Zeitraum hat das Interesse der Frauen an Selbstbefriedigung zwar zugenommen – bei Männern war es immer schon hoch –, aber dieses gesteigerte Interesse drückt sich nicht in einer größeren Häufigkeit aus. Das ist erstaunlich, denn wenn man den Wandel im Sexualverhalten von Männern und Frauen vergleicht, zeigt sich meist, dass sich die Geschlechter einander annähern. Zum Beispiel in Fragen wie "Wann hat man das erste Mal Sex?" oder "Geht jemand fremd und wenn ja, wie oft?" und ähnlichen. Nicht jedoch beim Sex mit sich selbst. Der bleibt männliches Terrain. Unter Frauen ist der Anteil von Solosex an ihrer Gesamtsexualität im Vergleich viel kleiner.

ZEITmagazin ONLINE: Man kann also sagen: Inzwischen machen es mehr Frauen, aber sie tun es nicht so häufig. Wie sehr ist solchen Statistiken zu trauen? Könnten sich Frauen nicht inzwischen leichter damit tun, anzugeben, dass sie sich selbst befriedigen?

Clement: Diesen Einwand gegen Sexualstudien gibt es ja immer. Aber auch wenn es diesbezüglich zu Ungenauigkeiten kommen kann, wäre es nicht einleuchtend anzunehmen, dass diejenigen, die nicht über ihr Sexualverhalten reden wollen, an solchen Studien teilnehmen. Die sind schließlich freiwillig. Andersherum kann man davon ausgehen, dass diejenigen, die teilnehmen, dann im Wesentlichen auch die Wahrheit sagen. Und so signifikante Unterschiede wie hier zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die Häufigkeit des Masturbierens könnten diese Ungenauigkeiten ohnehin nicht erklären.

ZEITmagazin ONLINE: Woher rührt der Unterschied also?

Clement: Männer können Einsamkeit eher sexualisieren als Frauen. So weiß man beispielsweise, dass depressive Männer relativ viel masturbieren können, um sich Erleichterung zu verschaffen und positiv zu spüren. Diesen Zusammenhang gibt es unter Frauen nicht. Leiden Frauen an einer Depression, verschafft ihnen Masturbation kaum eine Linderung. Männer haben eher die Tendenz zu sexualisieren, wenn es ihnen nicht gut geht. Das stützt auch eine Studie, die den Zusammenhang zwischen Koitushäufigkeit und Masturbationshäufigkeit untersucht hat. Bei Männern korrelieren diese Häufigkeiten leicht negativ. Bei Frauen hingegen gar nicht.

ZEITmagazin ONLINE: Das heißt?

Clement: Das heißt, dass Männer, die wenig Verkehr haben, viel masturbieren, und Männer, die viel Verkehr haben, wenig masturbieren. Deswegen kann man das Masturbieren bei Männern mit einiger Berechtigung als "Ersatzbefriedigung" bezeichnen. Bei Frauen hängen diese Häufigkeiten nicht zusammen. Man kann hier also die Masturbation weniger als Ersatz denn als Zugewinn betrachten – und somit berechtigterweise von Selbstbefriedigung sprechen.

ZEITmagazin ONLINE: Würde das nicht erklären, warum die Frauen zahlenmäßig aufholen? Es hat eben weniger damit zu tun, dass Frauen seltener guten Sex haben, als vielmehr damit, dass sie zunehmend diesen zusätzlichen Gewinn zu schätzen lernen?

Clement: Durchaus. Frauen erleben Solosex als zusätzlichen Gewinn, während bei Männern noch immer eine Prise Selbstverachtung und Abwertung mitschwingt – was sich im Übrigen auch in den vielen umgangs- und vulgärsprachlichen Wendungen ausdrückt, die dafür existieren.

ZEITmagazin ONLINE: Dennoch tun sie es. Irgendetwas Positives gewinnen sie der Sache also ab.

Clement: Der Vorteil liegt darin, dass jeder es genau so machen kann, wie er es möchte. Man kann sich beispielsweise das Werben, das Bedanken, das Rücksichtnehmen sparen, wenn man all das, was bei Sex mit einem Partner üblich ist, gerade nicht möchte. Kurz: Es kann eine ziemlich praktische Inszenierung für Egoismus sein.

ZEITmagazin ONLINE: Unterscheidet sich dieser Orgasmus denn – physiologisch oder psychologisch – vom Höhepunkt bei Sex mit einem Partner?

Clement: Physiologisch nicht. Psychologisch hängt es von der jeweiligen Partnersituation ab. Masturbation kann unbefriedigender als gemeinsamer Sex sein, wenn man eigentlich lieber einen Partner hätte und Masturbation als Ersatzbefriedigung wertet. Dann ist sie nur zweite Wahl. Aber es gibt natürlich auch schwierige Konstellationen: unzugängliche, abweisende oder auch nur zurückhaltende Partner. Für solche Beziehungen kann es für den, der mehr will, ein möglicher Ausweg sein, sich allein zu befriedigen. Zwar im Bewusstsein, dass es die zweite Wahl ist, aber eben auch in dem Bewusstsein, dass es besser ist als nichts. Oder besser, als sich vom Partner eine Abfuhr zu holen.