Vorhersehbare Obsoleszenz: Das TSG wird niemandes Ansprüchen gerecht

Das Transsexuellengesetz (TSG)vom 10.09.1980 ist heute nur noch ein Skelett. Seit Inkrafttreten enthielt es Bestimmungen, die mit der Würde des Menschen unvereinbar waren und durch das Bundesverfassungsgericht (BverfG) nacheinander für unanwendbar erklärt wurden. Was übrig blieb, stigmatisiert die Adressat*innen jedoch noch immer. Besonders die Begutachtungspflicht des § 8 TSG ist diskriminierend. Diese Grundrechtswidrigkeit kann kaum durch eine weitere Reform beseitigt werden.  Vielmehr gilt es bei der aktuellen Debatte um ein neues Gesetz, endlich die Zielgruppe anzuhören und den gutachtenfreien Antrag auf Namens- und Personenstandsänderung beim Standesamt sowohl für Trans*- als auch für Inter*-Personen einzuführen.

Bedürfnisse werden gegeneinander ausgespielt

Das TSG ist das Ergebnis einer als historisch bezeichneten Entscheidung des BVerfG von 1978. Zum ersten Mal erkannte das Gericht in dieser Entscheidung eindeutig an, dass trans*geschlechtliche Personen das Recht haben, ihren Namen und Personenstand ändern zu lassen. Die zwangsweise „geschlechtsangleichende“ Operation, die damals noch gefordert wurde, haben die Karlsruher Richter*innen inzwischen wie einen Großteil der anderen Vorschriften des Gesetzes für verfassungswidrig erklärt. Erst in  der vorletzten Entscheidung des BVerfG von 2011 befasste sich das Gericht mit der Frage, ob es verfassungsmäßig sei, an die Personenstandsänderung nach § 8 TSG („große Lösung“) höhere Anforderungen zu stellen als an die Namensänderung („kleine Lösung“), sprich, ob es einer Person zugemutet werden kann, für eine vollständige Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität einen risikoreichen operativen Eingriff und eine Zwangssterilisation zu erdulden. Das Gericht entschied und erklärte in Bezug auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht den Zwang zur Operation und Sterilisation für unanwendbar.

Was nicht mehr repariert werden kann, sollte ersetzt werden. Tatsächlich ist eine einfachere Lösung aktuell bereits einmal formuliert worden – im neuen § 45b des Personenstandsgesetzes (PStG). Dieser sieht die Änderung des Namens und des Personenstands der antragstellenden Person mit „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ durch Erklärung sowie Vorlage eines ärztlichen Attests gegenüber dem Standesamt vor. Einige Trans*-Personen haben auf Social Media mitgeteilt, die günstige Gelegenheit bereits genutzt zu haben. Im April stellte das Bundesinnenministerium jedoch klar: Das PStG soll nur für inter*geschlechtliche Personen gelten, Trans*-Menschen sollen auch weiterhin auf die wesentlich kompliziertere Regelung im TSG zurückgreifen. Das TSG war jedoch nie eine gangbare Alternative.

Kernkritik Gutachtenpflicht

Besonders diskriminierend ist die Begutachtungspflicht gem. § 4 Abs. 3 TSG. Für einen Vornamens- oder Personenstandswechsel ist auch in der aktuellen Fassung des Gesetzes die Erstellung zweier Sachverständigengutachten erforderlich. Eine Verfassungsbeschwerde von 2017 gegen dieses Erfordernis hat das BVerfG gar nicht erst zur Entscheidung angenommen. Selbst wenn die Regelung in konkreten Fällen in grundrechtsverletzender Weise angewendet werden sollte, so stelle das nicht ohne Weiteres die Regelung selbst infrage, so die Richter*innen in diesem Beschluss. Bereits im Jahr zuvor hatte jedoch eine Studie der Humboldt-Universität zu Berlin im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erkannt, dass besonders die Gutachtenpflicht einen unverhältnismäßigen Zeit- und Kostenaufwand bedeute. Zudem empfänden Betroffene die Gutachten oft als entwürdigend und diskriminierend. Durchschnittlich dauere das Verfahren bei den Amtsgerichten 9,3 Monate – im Vergleich mit der Regelung im PStG ist dies nicht nachvollziehbar. Das Kontrollbedürfnis, dass der Gesetzgeber hier zeigt, scheint zudem völlig unbegründet. Laut der Studie wird nur in 1 % der Fälle die gem. § 4 TSG zu beantwortende Frage nach einer „höchstwahrscheinlich dauerhaft vorliegenden, seit drei Jahren bestehenden transsexuellen Prägung“ verneint. Das verwundert nicht. Schließlich ist die maßgebliche Informationsquelle die Aussage der begutachteten Person selbst. Diese Zahl zeigt einmal, dass die betroffenen Personen selbst die besten und einzigen Expert_innen bezüglich ihrer Geschlechtsidentität sind.

Kritikwürdig sind zudem die hohen Kosten eines TSG-Verfahrens, die laut der vorgenannten Studie bei durchschnittlich knapp 2.000 Euro liegen. Die Verwaltungsgebühren für die Personenstandsänderung nach dem PStG belaufen sich laut den FAQ der Aktion Standesamt 2018 grundsätzlich auf maximal zweistellige Beträge. Dass Betroffene für das aufgezwungene kompliziertere Verfahren nach dem TSG auch noch so viel tiefer in die Tasche greifen müssen, diskriminiert sie und schafft ein Hierarchieverhältnis, das nur bestimmten Personen einen derart umfangreichen Beweis ihres Geschlechts abverlangt.

Keine Grundlage für Gutachten in der Wissenschaft

Trans*identität ist nicht diagnostizierbar und vor allem keine Krankheit, wie die WHO im Juni 2018 durch die Revision des ICD-11 nachdrücklich klarstellte. Die Geschlechtsidentität umfasst nicht nur gesellschaftlich konstruierte binäre Kategorisierungen, sondern ist Ausdruck einer individuellen Entwicklung. Bei der Feststellung der Geschlechtsidentität ist daher der Selbstbestimmung durch die betroffene Person Bedeutungsvorrang vor medizinischen Gutachten einzuräumen. Die Pflicht zur Beschaffung zweier Gutachten pathologisiert die Person und stigmatisiert sie. Die Anforderungen nach dem TSG sollten daher nach dem Wissenschaftsstand aktualisiert werden. Die Trans*identität sollte die einzige Voraussetzung für die Änderung des Personenstandes und Namens sein und ihre Bejahung sollte nur nach entsprechender Erklärung des Individuums erfolgen.

Hiermit wäre auch der Weg zur einheitlichen Subsumtion unter ein gemeinsames neues Gesetz geebnet. Eine Unterscheidung zwischen Trans* und Inter* bei der Subsumtion unter „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ verstößt laut einer Stellungnahme der Bundesvereinigung Trans* von Juni 2018 gegen Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. Zudem wirft diese konstruierte Unterscheidung die Frage auf, nach welchem Gesetz Personen, die sich sowohl als inter* als auch trans* verstehen, ihren Personenstand ändern lassen können. Es besteht die Gefahr, dogmatische Probleme zu schaffen, wo tatsächlich keine sind. Der dritte Geschlechtseintrag muss deshalb allen trans*- und inter*-Personen, egal ob binär oder nicht-binär, zugänglich sein.  Wiederholte und willkürliche Änderungen dieses Eintrags sind nach der Praxiserfahrung ebenfalls höchst unwahrscheinlich.

Gesetzeslücke für trans*-Geflüchtete im Asylverfahren

Sowohl das TSG als auch das aktuelle PStG verschließen sich zudem einer besonders vulnerablen Gruppe. Geflüchtete trans*-Menschen, ebenso wie gefüchtete inter*-Personen, können sich während des Asylverfahrens weder auf das eine noch das andere Gesetz berufen. Nach dem Wortlaut des § 1 TSG (ebenso unter zusätzlicher Nennung von Inhaber_innen einer Blauen Karte EU § 45b PStG) findet das Gesetz zwar Anwendung auf „Asylberechtigte“ und „ausländische Flüchtlinge“, die ihren Wohnsitz im Inland haben. Darunter fallen jedoch nur anerkannte Geflüchtete, die bereits einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 1 S. 1 Aufenthaltsgesetz oder nach § 25 Abs. 2 S. 1 1. Alt. Aufenthaltsgesetz in den Händen halten. Dies ist während des Asylverfahrens, das derzeit im Durchschnitt etwa 6 Monate dauern kann, gerade noch nicht der Fall. Das bedeutet ein halbes Jahr, in dem die betroffenen Personen damit keine Möglichkeit haben, Namen und Personenstand zu ändern.

„Gesetzeslücke“ im PStG als Anstoß für Reform zugunsten von Trans*-Personen?

Seit Beginn des Jahres 2019 hatten einige Trans*-Personen Glück, konnten die Möglichkeit des § 45b PStG für sich nutzen und kostengünstig ihren Personenstand im zuständigen Standesamt ändern lassen. Die nachträgliche Klarstellung des Innenministeriums, das Gesetz sei nur für Inter*-Personen gedacht, zeigt deutlich den Bedarf einer Neuregelung auf. Die Vereinfachung, die sich mit der Anerkennung dieser Möglichkeit für Trans*-Personen ergäbe, wäre begrüßenswert. Die Änderung des Namens und Personenstands sollte für alle Personen in ein schnelles und transparentes Antragsverfahren umgewandelt werden. Das gerichtliche Verfahren muss abgeschafft werden. Für Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft sollte nur noch an einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland angeknüpft werden. Der Gesetzgeber sollte der von Betroffenenverbänden geäußerten Kritik Rechnung tragen und die Kontrolle der persönlichen Selbstbestimmung auf das Minimum reduzieren. Dies kann durch die Herabsetzung der Anforderungen an die Personenstandsänderung erzielt werden. Das gilt sowohl für inter*- als auch trans*-Personen. Neuregelungen für beide Gruppen sollten ausschließlich an die eigene Erklärung der Geschlechtsidentität anknüpfen. Diese Forderungen in einem neuen Gesetzesentwurf umzusetzen, wäre der erste Schritt, ein Gesetz zustande zu bringen, das den Ansprüchen der Adressat*innen tatsächlich einmal gerecht würde.

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