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Der Klimawandel aus Sicht des evolutionären Humanismus

Warum wir nicht "klimaneutral", sondern "klimaeffektiv" sein sollten

Foto von David Wirzba (unsplash.com)

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Foto von David Wirzba (unsplash.com)

Die Menschheit muss ihre Wirtschaftsweise ändern, um die globale Erwärmung zu begrenzen. Wahr ist aber auch, dass der menschliche Einfluss auf das Klima eine nicht minder gefährliche ökologische Katastrophe verhindert. Würde die "Fridays for Future"-Bewegung dies berücksichtigen, könnte sie an Glaubwürdigkeit gewinnen. Ein Kommentar von Michael Schmidt-Salomon.

Das Universum, das wir beobachten können, verfügt über exakt jene Eigenschaften, die es haben müsste, wenn sich dahinter kein "göttlicher Heilsplan" verbirgt, sondern bloß das blinde Walten von Zufall und Notwendigkeit. Aus diesem Grund ist die Erde kein "Paradies", in dem wir in ewiger Glückseligkeit fortexistieren könnten, sie bietet uns bloß – und auch das nur innerhalb eines begrenzten Zeitfensters – eine halbwegs stabile ökologische Nische, in der aufrechtgehende Primaten einigermaßen komfortabel leben und sich vermehren können.

Wie labil das ökologische System ist, in dem wir leben, ist heute vielen Menschen durch die Debatten zum Klimawandel bewusst geworden. Es ist inzwischen hinreichend belegt, dass wir durch unsere Produktions- und Konsumtionsweise zu einem gesteigerten Treibhauseffekt und – damit verbunden – zu einem erdgeschichtlich rasanten Anstieg der globalen Temperaturen beitragen. Und es sollte klar sein, dass wir wirksame Gegenmaßnahmen einleiten müssen, da ein ungebremster Klimawandel schwerwiegende Folgen für die menschliche Zivilisation wie auch für einen Großteil der nichtmenschlichen Tierwelt haben würde.

Allerdings – und auch dies gehört zwingend zu einer evidenzbasierten Betrachtungsweise der Welt: Der hohe Anteil von Kohlendioxid in der Atmosphäre, der uns so große Sorgen bereitet, verhindert zugleich das Eintreten eines wohl noch verheerenderen Klimawandels in der Zukunft, nämlich den Beginn einer neuen Kaltzeit innerhalb der gegenwärtigen Eiszeit.

Um dies zu erklären, muss man etwas weiter ausholen: In den längsten Phasen der Erdgeschichte gab es kein Eis an der Polen. So fand der Aufstieg der Dinosaurier und später auch der Säugetiere in einem Warmzeitalter statt, bei der die globale Temperatur deutlich höher lag als heute. Die gegenwärtige Eiszeit begann vor 2,6 Millionen Jahren, weshalb wir uns mit Fug und Recht als "Eiszeitmenschen" bezeichnen können. Glücklicherweise leben wir jedoch in einem Interglazial, das heißt: in einer gemäßigten Warmzeit innerhalb einer Eiszeit. Das gegenwärtige Interglazial, das sogenannte Holozän, auf das die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, angepasst ist, begann vor etwa 12.000 Jahren. Insofern müssten wir eigentlich damit rechnen, dass es mit den für uns angenehmen, milden Temperaturen schon recht bald vorbei sein könnte, denn derartige Warmzeiten innerhalb eines Eiszeitalters hatten in der jüngeren Vergangenheit nur eine Dauer von etwa 10.000 bis 15.000 Jahren.

Seit längerem ist schon bekannt, dass der Übergang von einer interglazialen Warmzeit in eine glaziale Kaltzeit vom Grad der Sonneneinstrahlung und der Größenordnung der in der Atmosphäre enthaltenen Treibhausgase bestimmt wird. Exaktere Erkenntnisse hierzu liegen uns allerdings erst seit 2016 vor, dank eines – wie ich meine – spektakulären Artikels, den Andrey Ganopolski in Kooperation mit zwei weiteren Kollegen vom "Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung" (PIK) im Fachmagazin "Nature" veröffentlicht hat.

 
Wir sind nur knapp einer Kaltzeit entkommen

Die Forscher konnten nicht nur die Bedingungen bestimmen, die für den Übergang von einer interglazialen Warmzeit zur glazialen Kaltzeit verantwortlich sind, sie fanden auch heraus, dass die Menschheit nur sehr knapp dem Schicksal einer Kaltzeit entronnen ist. Hätte nämlich der Kohlendioxidgehalt in der vorindustriellen Zeit (etwa im 18. Jahrhundert) nur 240 ppm ("parts per million") statt der tatsächlichen 280 ppm betragen, wären jene fatalen, selbstverstärkenden Prozesse eingeleitet worden, die uns aus dem angenehmen Holozän heraus – und in eine ungemütliche neue Kaltzeit hineingeführt hätten. Bei der Frage, warum der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre damals um diese zwar marginal erscheinenden, aber höchst bedeutsamen 0,004 Prozentpunkte (40 ppm) höher lag, verwiesen die Forscher auch auf einen möglichen Einfluss des Menschen in der vorindustriellen Zeit, etwa auf die weitflächige Abholzung von Wäldern, welche die Reduzierung des überschüssigen Kohlendioxids im Zuge der Photosynthese verhindert hat.

Und dies ist nun in der Tat ein interessanter Befund: Denn dass das Abholzen von Wäldern unter bestimmten Umweltbedingungen eine verheerende ökologische Katastrophe verhindern könnte, widerspricht völlig unseren moralischen Intuitionen, die letztlich auf einem romantischen Naturbild gründen. Aber dies zeigt nur, dass das aus religiösen Vorstellungen ("Heiligkeit der Schöpfung") gespeiste romantische Naturverständnis den Blick auf die Realität verstellt. Die Natur ist eben nicht "gut" und der Mensch nicht "böse". Mit Moralismus bzw. einem unreflektierten "Alternativradikalismus" (Hans Albert) kommen wir in der Sache nicht weiter: Wir müssen genauer hinschauen, um die ökologischen Wechselwirkungen zu verstehen, die unser Überleben garantieren. Zwar müsste die "For Future"-Bewegung moralisch abrüsten, wenn sie den menschlichen Beitrag zum Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre nicht mehr per se als "klimaschädlich" verteufeln würde, aber gerade dadurch könnte sie an Glaubwürdigkeit gewinnen und die Argumente sog. "Klimaskeptiker" wirksamer entkräften.

War der Einfluss des Menschen auf das Weltklima in der vorindustriellen Zeit noch schwach ausgeprägt (weshalb er in der Forschung unterschiedlich bewertet wird, Ganopolski & Co. bezeichnen ihn zum Beispiel als "sehr unsicher"), so ist er heute unübersehbar: Im Zuge der industriellen Revolution ist der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre von den 280 ppm im 18. Jahrhundert auf über 400 ppm angestiegen und er wird sich in der nahen Zukunft noch weiter erhöhen. Ganopolski und seine Kollegen kamen daher zu dem bemerkenswerten Schluss, dass wir angesichts der Verweildauer des Kohlendioxids in der Atmosphäre wohl in den nächsten 50.000 bis 100.000 Jahren nicht mit dem Ausbruch einer neuen Kaltzeit rechnen müssen.

Dem menschlichen Einfluss ist es also zu verdanken, dass das Holozän ein außergewöhnlich lang andauerndes Interglazial werden könnte – es sei denn, wir kriegen unsere Treibhausgasemissionen nicht in den Griff. Denn dann könnte aus der interglazialen Warmzeit ein echtes Warmzeitalter werden, also ein neues Erdzeitalter ohne Eis an den Polen. Zwar würde die menschliche Zivilisation in einer solchen Warmzeit vermutlich sehr viel eher noch überleben können als in einer glazialen Kaltzeit, doch die ökologischen, sozialen und kulturellen Verwerfungen, die im Übergang vom Eiszeitalter zum Warmzeitalter stattfinden würden, hätten gewaltige Ausmaße.

 
Nichts ist beständiger als der Wandel

Wir lernen aus alldem, dass Darwins berühmter Satz "Nichts ist beständiger als der Wandel" selbstverständlich auch für das Weltklimasystem gilt. Wir Menschen müssen uns den Wandlungsprozessen der Erde anpassen bzw. – sofern möglich – alles Erdenkliche tun, um zu verhindern, dass diese Wandlungsprozesse unsere angestammte ökologische Nische zerstören. Deshalb auch ist "Klimaneutralität" bei genauerer Betrachtung kein sonderlich kluges Konzept, denn wären wir wirklich "klimaneutral" (im eigentlichen Sinne des Wortes), würden wir irgendwann unweigerlich auf eine neue Kaltzeit zusteuern. Statt "klimaneutral" zu sein, kommt es also darauf an, auf intelligente Weise "klimaeffektiv" zu sein, um die für uns (und auch für andere empfindungsfähige Tiere) angenehme ökologische Nische des Interglazials zu erhalten, was im "natürlichen Bauplan" der Erde leider überhaupt nicht vorgesehen ist.

Aus diesem Grund können wir uns nicht allein darauf konzentrieren, den "negativen Fußabdruck der Menschheit" zu reduzieren (auch wenn diese Haltung einem weit verbreiteten puritanisch-moralischen "Bußreflex" entsprechen mag). Unser Ziel muss stattdessen darin bestehen, den "positiven Fußabdruck der Menschheit" zu erhöhen, wie es die Cradle to Cradle-Denkschule schon seit Jahren im Einklang mit humanistischen Werten fordert.

Im Kern geht es also darum, einen "intelligenteren Stoffwechsel mit der Natur" zu etablieren – keineswegs nur, aber eben auch im Hinblick auf das Weltklimasystem. Zwar muss auf dem Gebiet der Klimasensitivität bzw. des Geoengineerings noch sehr viel mehr geforscht werden, aber im Grunde wissen wir bereits heute, was getan werden müsste: Etwa, dass wir (im Unterschied zu den vorangegangenen Generationen) die Wälder aufforsten statt abholzen müssen, um einer fatalen Klimaveränderung entgegenzuwirken. Oder dass wir insbesondere in den ärmeren Regionen der Erde den Wohlstand erhöhen und die Bildungssysteme verbessern müssen, um den Anstieg der Weltbevölkerung zu begrenzen – was zeigt, dass wir die 17 "Global Goals" der UN gemeinsam, also systemisch, angehen müssen. Ein isolierter Klimaschutz, der ökonomische, soziale oder kulturelle Faktoren ausblendet, wird nicht funktionieren.

Das entscheidende Problem besteht heute nicht mehr in fehlendem Wissen. Es besteht vor allem darin, dass die Menschheit nicht als ein entschlossenes Kollektiv handelt, welches sich seiner planetaren Verantwortung stellt, sondern dass sie in einzelne, sich gegenseitig bekämpfende Interessengruppen zerfällt, die noch immer meinen, ihre jeweils eigenen nationalen, kulturellen oder religiösen Borniertheiten pflegen zu müssen. Was uns also fehlt, ist ein globaler Orientierungsrahmen, eine planetare Perspektive, welche die zukunftstauglichen Traditionen, die sich im Verlauf der kulturellen Evolution entwickelt haben, in sich vereint und die zugleich die zerstörerischen Traditionen ausschließt, die einer produktiven Weiterentwicklung unserer Spezies im Wege stehen – und genau an diesem Punkt kommt der evolutionäre Humanismus ins Spiel.

 
Ein globaler Orientierungsrahmen

Als Julian Huxley 1945 seinen Posten als erster Generaldirektor der UNESCO antrat, sah die Lage der Menschheit finster aus: Der zweite Weltkrieg mit seinen Millionen von Toten war gerade zu Ende gegangen, die unfassbaren Menschheitsverbrechen, die Nazi-Deutschland begangen hatte, traten allmählich erst ins öffentliche Bewusstsein, zudem spitzte sich der Ost-West-Konflikt immer weiter zu, der die Menschheit in den nachfolgenden Jahrzehnten mehrmals an den Rand der atomaren Vernichtung bringen sollte. Wie, bitteschön, sollte angesichts dieser dramatischen Ausgangslage das Programm einer Weltorganisation für Bildung und Erziehung, Wissenschaft und Kultur aussehen? War der Auftrag der UNESCO nicht schon von vornherein zum Scheitern verurteilt?

Julian Huxley verfasste 1945 eine 60-seitige Schrift, in der er nicht nur die zentralen Funktionen beschrieb, welche die neu geschaffene UNESCO erfüllen müsse, sondern in der er auch nachdrücklich darauf hinwies, dass dies nur auf der Basis eines sowohl wissenschaftlichen als auch humanistischen Rahmenkonzepts gelingen könne. Die UNESCO, so Huxley, dürfe sich in ihrer Arbeit nicht auf die sich gegenseitig ausschließenden und hartnäckig bekämpfenden Religionen, philosophischen Denkschulen oder politischen Ideologien stützen, sondern müsse eine kosmopolitische Perspektive entwickeln, einen "wissenschaftlichen Welt-Humanismus" , wie er es nannte, der die Gräben zwischen den Traditionen auf der Basis einer vereinheitlichenden, evolutionären Sicht auf die menschliche Natur und Kultur überwindet.

Für diese klare Positionierung zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und humanistischen Grundwerten erntete Julian Huxley keineswegs nur Beifall, sondern auch heftige Kritik, insbesondere von Seiten konservativer Religionsvertreter. Aber dies brachte ihn nicht davon ab, weiter in diese Richtung zu denken, was 1961 in die Veröffentlichung eines Sammelbandes zum "Evolutionären Humanismus" mündete.

Was unterscheidet diesen neuen, evolutionären Humanismus von vorangegangenen Humanismus-Varianten? Um es kurz zu machen: Der evolutionäre Humanismus ist strikt evidenzbasiert, sein Weltbild stützt sich also konsequent auf wissenschaftliche Befunde. Daher begreift er den Menschen auch nicht als "Krone der Schöpfung", sondern als unbeabsichtigtes Produkt der natürlichen Evolution. Zudem ist der evolutionäre Humanismus – wie die Wissenschaft – notwendigerweise ergebnisoffen: Er darf nicht statisch bleiben, sondern muss sich parallel zum wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt weiterentwickeln. Deshalb gibt es für ihn keine absoluten Dogmen, keine "heiligen" (unantastbaren) Schriften und auch keine unfehlbaren Propheten, welche "die Wahrheit" für sich gepachtet hätten, stattdessen unterliegt alles der Kontinuität des Wandels (was selbstverständlich auch für die Stichhaltigkeit der Argumentationsweise des vorliegenden Textbeitrags gilt, der keinerlei Anspruch auf "Unfehlbarkeit" erhebt).

Wie andere Humanist*innen glauben auch evolutionäre Humanist*innen "an den Menschen", allerdings bedeutet dies unter evolutionärem Vorzeichen keineswegs, dass sie die heute lebenden Menschen glorifizieren würden. Sie glauben vielmehr "an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen", d.h. an das besondere Potenzial unserer Spezies, über sich selbst hinauszuwachsen – ein Glaube, den man, wie ich in meinen Buch "Hoffnung Mensch" gezeigt habe, anhand vielfältiger Belege rational begründen kann.

Evolutionäre Humanist*innen sind dabei weder Pessimist*innen, die meinen, dass die Welt ohnehin nicht mehr zu retten ist, noch Optimist*innen, die glauben, dass alles schon irgendwie gut gehen wird. Sie sind Possibilist*innen, die wissen, dass die Entwicklung unserer Spezies unterschiedlichste Richtungen einschlagen kann und dass das Wohlergehen künftiger Generationen nicht zuletzt auch von den Entscheidungen abhängt, die wir selbst in unserem Leben treffen werden. Kennzeichnend für evolutionäre Humanist*innen ist also, dass sie zwar mit dem Schlimmsten rechnen, aber auf das Beste hoffen.

 
Auf dem Weg zu einem planetaren Bewusstsein?

Wie wir gesehen haben, ist die Menschheit vor wenigen Jahrhunderten nur mit unverschämtem Glück der ökologischen Katastrophe einer glazialen Kaltzeit entkommen. Auf ein solches Glück können wir uns heute ganz gewiss nicht mehr verlassen. Immerhin: Man kann es durchaus als eine glückliche Fügung begreifen, dass wir die Folgen der Klimaerwärmung erst jetzt zu spüren bekommen – und dass dies nicht schon vor 100 oder 200 Jahren passiert ist. Denn damals hätten wir weder über das Wissen noch über die Technologie verfügt, um wirksame Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Zudem steht uns mit dem Internet erst heute eine weltweite Kommunikationsplattform zur Verfügung, die das Wissen über den Klimawandel wie auch das Wissen über die wissenschaftliche Tatsache der Evolution rund um den Globus verbreiten kann.

Für die Hüter des Status quo ergibt sich aus dieser digitalen Verbreitung des Wissens allerdings ein ernsthaftes Problem. Warum? Weil die allermeisten religiösen oder politisch-ideologischen Vorstellungen im Lichte der Evolution keinen Sinn mehr ergeben! Ihre Verteidiger können heute zum Schutz des althergebrachten Weltbildes im Grunde nur noch Eines tun: Sie müssen versuchen, die kulturellen Schotten möglichst geschlossen zu halten, was im digitalen Zeitalter aber zunehmend schwieriger wird. Und genau hier liegt ein möglicher Selektionsvorteil des evolutionären Humanismus, denn er ist das bislang einzige Weltanschauungssystem, das die großen Fragen der Menschheit (Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was sollen wir tun? Worauf dürfen wir hoffen?) konsequent im Lichte der Evolution beantwortet.

Die Zeichen stehen daher gar nicht einmal so schlecht, dass sich die evolutionär-humanistische Sicht der Welt weiter ausbreiten wird. Damit meine ich nicht, dass die Menschen sich mehrheitlich als "evolutionäre Humanist*innen" verstehen werden – nicht einmal, dass sie wissen, was der Begriff des "evolutionären Humanismus" bedeutet. Ich meine aber sehr wohl, dass sie (ganz im Sinne dieses Rahmenkonzepts) zunehmend davon ablassen werden, die Welt aus der limitierten Perspektive des eigenen Stammes, des eigenen Volkes, der eigenen Nation oder der eigenen Religion zu begreifen. Natürlich werden diejenigen, deren Macht auf der identitären Abgrenzung der eigenen Gruppe von "den Anderen" beruht, nichts unversucht lassen, um diesen evolutionären Schritt hin zu einem neuen planetaren Bewusstsein entgegenzuwirken. Allerdings erhält dieses planetare Bewusstsein gerade heute durch die aktuellen Debatten um den Klimawandel neuen Aufschwung, insbesondere bei den Mitgliedern der jüngeren Generation.

Mit einer relativen Sicherheit (von sagen wir einmal: 50,001 Prozent) gehe ich daher davon aus, dass sich die "Internationale der Nationalisten", die momentan noch sehr erfolgreich nationalen Chauvinismus mit reaktionären religiösen Dogmen verrührt, sich mit ihrer überkommenen Sicht der Welt nicht dauerhaft durchsetzen wird. Stattdessen werden unsere Artgenossen zunehmend erkennen, dass "Völker", "Nationen", "Religionen" bloß vorübergehende Konstrukte sind, die eine fundamentale Tatsache des Lebens allzu oft verdecken, nämlich dass uns Menschen untereinander sehr viel mehr verbindet als trennt.

Kurzum: Ich wage die Prognose, dass sich die Menschen künftig immer weniger als Amerikaner, Russen, Türken, Chinesen, Inder, Tschechen, Polen oder Deutsche und auch immer weniger als Juden, Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten oder Atheisten verstehen werden, sondern vielmehr als gleichberechtigte Mitglieder einer aufrechtgehenden Primatenspezies, die mit sich und ihrem kleinen blauen Planeten sehr viel behutsamer umgehen sollte, als sie es in der Vergangenheit getan hat. Warum ich das vermute? Ganz einfach: Weil die Menschheit im Zuge ihrer kulturellen Evolution summa summarum bemerkenswerte Fortschritte erzielt hat – und es angesichts dieser Entwicklung zwar möglich, aber nicht sonderlich wahrscheinlich ist, dass die nachkommenden Generationen dümmer und rückschrittlicher sein werden als wir. (Auch wenn es den einen oder anderen vielleicht schmerzen mag: Wir Heutigen bilden wohl nicht den Höhepunkt der menschlichen Kulturentwicklung...)

 
Abschied vom Zynismus

Im Menschen ist sich die Evolution erstmalig ihrer selbst bewusst geworden – erstmalig zumindest auf diesem Planeten, möglicherweise sogar in der gesamten Milchstraße. Dieses Bewusstsein macht uns gewiss nicht zu den "Herrschern der Erde" – das sind sehr viel eher die Mikroben, die lange vor uns existiert haben und auch noch lange nach uns existieren werden. Jedoch: Das Wissen um den evolutionären Wandel könnte uns sehr wohl in die Lage versetzen, einige Veränderungen bewusst zu steuern – nicht bloß in unserem eigenen Interesse, sondern auch im Interesse anderer empfindungsfähiger Lebewesen.

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass unsere Spezies trotz des aktuellen Artensterbens, das wesentlich auf unser Konto geht, die einzige Garantie dafür ist, dass höher entwickelte Lebensformen etwas länger auf diesem Planeten existieren werden, da nur wir das Potenzial haben, globale Katastrophen abzuwehren. Und damit meine ich keineswegs nur den Klimawandel: Denn der nächste Kometeneinschlag kommt bestimmt – sofern wir Menschen nichts dagegen unternehmen – und dieser Einschlag könnte noch gravierendere Folgen haben als der Impact vor 66 Millionen Jahren, der den Untergang der Dinosaurier einleitete.

Aus diesem Grund sollten wir damit aufhören, die Menschheit schlechtzureden oder sie gar als "Krebsgeschwür der Erde" zu betrachten, wie man es heute so häufig hört. Vermutlich ist vielen Ökologiebewegten gar nicht bewusst, wie sehr sie mit solchen hypermoralischen Sprachbildern antihumanistische Vorstellungen bedienen, die letztlich nur reaktionären Kräften in die Hände spielen. Daher sollten wir (gerade auch in der gegenwärtigen Klimadebatte) nicht vergessen, worauf sich der rationale Glaube an unsere Spezies gründet: Der Mensch ist – trotz seiner grauenvollen Geschichte und trotz der momentan besonders auffälligen "weltumspannenden Riesenblödheit", die ich in "Keine Macht den Doofen" beschrieben habe – das mitfühlendste, klügste, phantasiebegabteste und humorvollste Tier, das sich auf diesem Planeten entwickelt hat.

Auch wenn wir uns von anderen irdischen Lebensformen nur graduell unterscheiden, so sind wir doch eine Spezies mit einem ganz besonderen biologischen Potenzial: Die Evolution hat Jahrmilliarden gebraucht, um ein Wesen hervorzubringen, das in der Lage ist, den evolutionären Prozess zu durchschauen. Schon allein deshalb wäre es schade um uns, würden wir vorzeitig von der Bühne des Lebens abtreten…


Nachbemerkung vom 2.11.2019: Kritische Anmerkungen zu diesem Artikel haben zu zwei kleineren Änderungen geführt:
1. Der Satz "Insofern müssten wir eigentlich damit rechnen, dass es mit den für uns angenehmen, milden Temperaturen schon recht bald vorbei sein könnte, denn derartige Warmzeiten innerhalb eines Eiszeitalters haben im Durchschnitt nur eine Dauer von etwa 10.000 bis 15.000 Jahren." wurde folgendermaßen präzisiert: "Insofern müssten wir eigentlich damit rechnen, dass es mit den für uns angenehmen, milden Temperaturen schon recht bald vorbei sein könnte, denn derartige Warmzeiten innerhalb eines Eiszeitalters hatten in der jüngeren Vergangenheit nur eine Dauer von etwa 10.000 bis 15.000 Jahren." Damit wurde der bekannten Tatsache Rechnung getragen, dass erdgeschichtlich frühere Interglaziale deutlich länger Bestand hatten.

2. In der ersten Version des Textes stand: "War der Einfluss des Menschen auf das Weltklima in der vorindustriellen Zeit noch schwach ausgeprägt (weshalb er in der Forschung unterschiedlich bewertet wird), so ist er heute unübersehbar". Dies wurde in der Klammer nun folgendermaßen ergänzt, um jedes etwaige Missverständnis auszuschließen: War der Einfluss des Menschen auf das Weltklima in der vorindustriellen Zeit noch schwach ausgeprägt (weshalb er in der Forschung unterschiedlich bewertet wird, Ganopolski & Co. bezeichnen ihn zum Beispiel als "sehr unsicher"), so ist er heute unübersehbar.

Und noch ein allgemeiner Hinweis: Mitunter wurde der vorliegende Artikel so ausgelegt, als wolle er die "Fridays for Future"-Bewegung schwächen, doch das Gegenteil ist der Fall: Es geht darum, den Blick zu weiten, um mögliche Gegenargumente besser entkräften zu können. Hier bietet sich eine Analogie zur Debatte um den politischen Islam an: Progressive politische Kräfte haben eine rationale Kritik am politischen Islam weitgehend tabuisiert, um ja nicht AfD & Pegida in die Hände zu spielen. Aber genau dieses Kritikdefizit hat AfD & Pegida letztlich gestärkt, da sie unter dieser Voraussetzung mit halben Wahrheiten ganze Erfolge erzielen konnten. Ein solcher Fehler sollte uns im Umgang mit Rechtspopulisten nicht noch einmal unterlaufen. Leider aber sieht es in der Klimadebatte momentan genau danach aus, da rationale Argumente, die beispielsweise das unreflektierte Natur- und Menschenbild vieler Ökologiebewegter hinterfragen ("Bewahrung der Schöpfung"), ausgeblendet werden sollen, um die "moralisch gute Sache" nicht zu gefährden (obwohl man sich gerade durch eine moralistische Denkhaltung, die "unschickliche" Tatsachen ausblendet, unnötig angreifbar macht).

Nachtrag vom 7.1.2020: Der Satz aus der Ursprungsversion "Der hohe Anteil von Kohlendioxid in der Atmosphäre, der uns so große Sorgen bereitet, hat zugleich einen wohl noch verheerenderen Klimawandel verhindert, nämlich den Beginn einer neuen Kaltzeit innerhalb der gegenwärtigen Eiszeit" war leider unsauber formuliert (vielen Dank für diesen Hinweis an Hans Trutnau!). Gemeint war: "Der hohe Anteil von Kohlendioxid in der Atmosphäre, der uns so große Sorgen bereitet, verhindert zugleich das Eintreten eines wohl noch verheerenderen Klimawandels in der Zukunft, nämlich den Beginn einer neuen Kaltzeit innerhalb der gegenwärtigen Eiszeit." Die Formulierung wurde in der obigen Fassung entsprechend korrigiert. Zudem wurde der bewusst provokative Untertitel "Warum wir nicht 'klimaneutral' sein sollten" in "Warum wir nicht 'klimaneutral', sondern 'klimaeffektiv' sein sollten" umgeändert, weil dies dem Inhalt des Aufsatzes sehr viel eher entspricht und etwaige Missverständnisse möglicherweise verhindern kann.