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Bayerns Rauschgiftbilanz 42 Prozent mehr Drogentote in drei Jahren

Bayern verzeichnete 2014 zum dritten Mal in Folge mehr Drogentote als jedes andere Bundesland. Länder mit Fixerstuben konnten die Zahl der Rauschgiftopfer dagegen verringern - in München will man davon nichts hören.
Ein Mann setzt sich in München eine Spritze: Steigende Zahl von Drogentoten

Ein Mann setzt sich in München eine Spritze: Steigende Zahl von Drogentoten

Foto: Frank Leonhardt/ dpa

München - Es gab Tage im Leben von Philipp Lenz*, an denen er nicht mehr konnte und "einfach einen Schlussstrich ziehen wollte". Dann habe er absichtlich eine zu große Menge Heroin auf den Löffel gepackt. Noch öfter sei es ihm jedoch passiert, dass er sich versehentlich zu viel spritzte. Doch stets wachte der 30-jährige Münchner, der schon sein halbes Leben lang abhängig ist, nach einigen Stunden wieder auf. "Zum Glück", wie er heute sagt.

Lenz ist trotz seines langjährigen Heroinkonsums ein eher kräftiger Mann. Aktuell sei er clean, sagt er. Die Narben am Arm lassen erahnen, was er seinem Körper angetan hat. Der frühere Fixer hat es sich auf einem Stuhl im Limit bequem gemacht. In einem Schwabinger Hinterhof hilft die Einrichtung des Selbsthilfevereins Condrobs Süchtigen auch bei der Bewältigung ihres Alltags. Mit ruhiger Stimme erzählt Lenz vom täglichen Kampf gegen die Sucht - und Bayerns Behörden. Stets werde ihm das Leben schwer gemacht, etwa wenn Bewährungstermine mitten in die normale Arbeitszeit gelegt würden.

Heute nehme er einen Ersatzstoff. Selbst kürzlich auf dem Geburtstag eines Bekannten habe er dem ständigen inneren Druck widerstanden - anders als ein Kumpel. Irgendwann am frühen Morgen habe es auf der Toilette laut gescheppert, erinnert sich Lenz. Als er die Tür öffnete, lag der Freund bewusstlos am Boden. Lenz rief den Notarzt, der Freund überlebte die Überdosis.

2014 gab es in Bayern 252 Drogentote

Doch nicht immer kommt der Notarzt rechtzeitig. Es ist noch nicht mal ein Vierteljahr vorbei, doch bis zum 11. März dieses Jahres zählte die Münchner Polizei in der Landeshauptstadt mit 17 beinahe halb so viele Drogentote wie im gesamten Jahr 2012 - und rund dreimal so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. 2012 wurden in München im ganzen Jahr 39 Drogen-Todesfälle registriert, im vergangenen Jahr 48. Im Bereich Schwaben Nord, zu dem auch Augsburg gehört, stieg die Zahl der Rauschgifttoten 2014 um 73 Prozent an. Auch in Ostbayern gab es teils kräftige Zuwächse. Das ergaben Anfragen von SPIEGEL ONLINE bei den bayerischen Polizeipräsidien.

Dem bayerischen Innenministerium zufolge starben im vergangenen Jahr 252 Menschen im Freistaat an den Folgen ihrer Rauschgiftsucht. 2013 lag der Wert bei 230, im Jahr davor bei 213 Drogenleichen. 2011 gab es 177 Tote - demnach ist die Opferzahl innerhalb von nur drei Jahren um 42 Prozent gestiegen.

Eine Umfrage von SPIEGEL ONLINE in allen 16 Bundesländern hat ergeben, dass Bayern 2014 zum dritten Mal in Folge die meisten Drogentoten aller Länder verzeichnete. Einen sehr geringen Zuwachs an Rauschgiftopfern meldeten im vergangenen Jahr laut den zuständigen Länderministerien Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Schleswig-Holstein. Deutlicher war der Anstieg in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Bremen. In der Hansestadt gab es 19 Rauschgiftopfer nach nur sieben in 2013.

Weniger Drogentote in sieben Bundesländern

Den stärksten Rückgang - um ein Viertel auf 66 Tote im Jahr 2014 - registrierte Hessen. Weniger Drogentote gab es zudem in Hamburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und dem Saarland, gleich viele in Brandenburg.

Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen fehlen zwar noch die exakten Zahlen. Doch in den vergangenen Jahren sank die Zahl der Drogentoten stetig: 2009 lag sie noch bei 344, 2013 starben 198 Konsumenten. "Dieser Trend setzt sich auch für das Jahr 2014 fort", sagt ein Sprecher des dortigen Innenministeriums.

Doch warum hat Bayern - bei den Einwohnern Nummer zwei in Deutschland - mit steigenden Zahlen zu kämpfen, während NRW Erfolge verzeichnet? Im Düsseldorfer Gesundheitsministerium geht man davon aus, dass dies am "differenzierten Suchthilfesystem" mit landesweit zehn Drogenkonsumräumen liegt. Dort können sich Abhängige unter medizinischer Aufsicht ihren Schuss setzen.

Fentanyl kostet die meisten Leben

Auch in mehreren anderen Bundesländern wie Niedersachsen, Hessen und Berlin, die auf Fixerstuben setzen, meldeten die Behörden in den vergangenen Jahren deutlich weniger Drogentote. In Berlin etwa hat sich die Opferzahl in den vergangenen fünf Jahren bei etwa 120 eingependelt. Zwischen 2002 und 2009 hatte diese stets zwischen 150 und 200 gelegen.

Anders in Bayern. Die Todesursache Nummer eins bei Rauschgift ist dort der Polizei zufolge in den meisten Fällen noch immer Heroin. "Immer öfter mischen die Süchtigen gleich mehrere Substanzen miteinander. Dann wird es richtig gefährlich", sagt Markus Karpfinger, Chef des Münchner Rauschgiftdezernats. Vor allem Fentanyl, an das Junkies deutlich leichter kommen als an Heroin, wird zu einer wachsenden Gefahr.

Bereits 2014 gab ein Mitverfasser des "alternativen Drogenberichts" der restriktiven bayerischen Drogenpolitik eine Mitschuld an der hohen Opferzahl. Auch Klaus Fuhrmann, der sich bei Condrobs um ältere Abhängige kümmert, sieht den "hohen Verfolgungsdruck" durch Polizei und Staatsanwaltschaft als großes Problem. Bayerns Süchtige müssen schon bei geringsten Mengen mit hohen Strafen rechnen. "Eine Rückkehr ins normale Leben ist so kaum möglich", sagt er.

Innenministerium hält Fixerstuben für "völligen Irrweg"

Fuhrmann zufolge führt der repressive Umgang dazu, dass sich viele Süchtige beim Konsum in Privatwohnungen zurückziehen. Tatsächlich wurde zumindest in München oder Nürnberg der Großteil der Rauschgifttoten in Wohnungen aufgefunden. Dass sie tot sind, merkt mitunter tagelang niemand. Aber auch beim Konsum in der Gruppe rufen Junkies bei Überdosen oft keine professionelle Hilfe.

Fuhrmann fordert, dass Süchtige die Zusammensetzung ihres Stoffs analysieren lassen dürfen. Er wünscht sich Drogenkonsumräume. Diese würden "Leben retten", sagt auch Regina Radke von der Suchthilfeberatung Prop.

Bayerns Linkspartei sieht den Freistaat auf "einem Irrweg der Kriminalisierung". Ein Sprecher des Innenministeriums weist Kritik zurück. Die Zahl der Suchttoten schwanke von Jahr zu Jahr. Fixerstuben hält er "für einen völligen Irrweg." Anstatt Junkies das Ausleben ihrer Abhängigkeit zu erleichtern, müssten Wege aus der Drogensucht gefunden werden. Außer einem umfangreichen Therapieangebot gehöre dazu, die Drogenszenen bereits im Keim zu verhindern. Drogenkonsumräume würden zwangsläufig Kriminalität anziehen.

* Name geändert


Zusammengefasst: In Bayern sterben so viele Menschen an den Folgen von Drogenkonsum wie in keinem anderen Bundesland: Im vergangenen Jahr waren es 252. 22 mehr als im Jahr zuvor. In München stieg die Zahl der Toten in diesem Jahr bis zum 11. März im Vergleich zum Vorjahreszeitrum etwa um das Dreifache auf 17. Experten machen die repressive Drogenpolitik verantwortlich, empfehlen zum Beispiel die Einführung von Fixerstuben. Das Innenministerium hält davon nichts.

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