"Angst zu haben ist nicht per se schlecht" – Seite 1

Brechen in der Unsicherheit der Corona-Krise dunkle Erinnerungen und vererbte Traumata auf? Ingrid Meyer-Legrand arbeitet als Therapeutin und Coachin. Sie hat sich auf die Arbeit mit Kriegsenkeln spezialisiert und gibt Antworten.

ZEIT ONLINE: Frau Meyer-Legrand, Angela Merkel hat in ihrer Fernsehansprache zur Corona-Krise gesagt: "Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames Handeln ankommt." Warum ein solch mächtiger Vergleich?  

Ingrid Meyer-Legrand: Der Zweite Weltkrieg ist in Europa der Referenzrahmen für die Krise schlechthin. Es ist die Wunde Europas. Daher muss man diese Referenz nur antippen und die Leute sind aufgeschreckt. Ich bin Ende der Fünfzigerjahre in Westdeutschland geboren und habe so einen Vergleich bislang eher noch nicht gehört. Mit diesem Vergleich werden alle Generationen in eine Art Habachtstellung gebracht, denn die Kriegserfahrungen sind für die Älteren der Jahrgänge 1929 bis 1946, die wir als Kriegskinder bezeichnen, bis heute sehr präsent. Und damit natürlich auch in den Köpfen ihrer Nachkommen, den sogenannten Kriegsenkeln.

ZEIT ONLINE: Über die Weitergabe von Kriegstraumata werden wir später sprechen. Vorab würde ich gerne wissen: Ist ein Kriegsvergleich, wie ihn jüngst auch die Queen in ihrer Ansprache in Großbritannien gezogen hat, während einer Pandemie wirklich hilfreich?

Meyer-Legrand: Nein, dieser Vergleich ist falsch. Die Menschen in Deutschland sitzen in warmen Wohnungen und sind nicht von Lebensmitteln abgeschnitten. Wir befinden uns nicht im Krieg. Eine solche Metaphorik funktioniert leicht wie eine Massenhypnose, die die Einzelnen eher schwächt als stärkt. Da sollten die Politiker besser auf ihre Worte achten. Diejenigen, die heute die Gesellschaft in Deutschland bestimmen, haben aus dem Faschismus, der Indoktrination und den Verbrechen des Holocausts ihre Lehren gezogen. Mit dieser Generation von Politikern sind wir in einer Demokratie angekommen. Auf die Chancen, die damit verbunden sind, sollten wir in diesen Zeiten besser hinweisen.

Halte inne und wachse! So sollten wir generell mit Krisen umgehen.

ZEIT ONLINE: Wenn Sie von Massenhypnose sprechen: Worin besteht denn die Gefahr solcher Assoziationen und Bilder?

Meyer-Legrand: Diese Kriegsmetaphern sind eine Einladung zur Angst. Und viele nehmen diese Einladung an, sind innerlich angespannt und nervös. Man kann sich nicht mehr wie gewohnt bewegen. Viele fragen sich, worauf muss ich mich langfristig einstellen, was kann ich tun? Normalerweise folgt auf die Ankündigung einer so außergewöhnlichen Lage eine Aktion, aber genau das passiert jetzt nicht. Die Gesellschaft wird stillgestellt ­– zu unserem Schutz! Wir beobachten Hamsterkäufe und müssen uns fragen, ob das nicht Ersatzhandlungen sind, um überhaupt etwas zu tun. Hier vermisse ich Anregungen, über das Potenzial dieser Situation nachzudenken. 

ZEIT ONLINE: Braucht es nicht ein Gefühl wie Angst, um Krisen wie die unsichtbare Corona-Pandemie ernst zu nehmen?

Meyer-Legrand: Angst zu haben ist nicht per se schlecht. Evolutionsbiologisch macht Angst sehr viel Sinn. Aber man darf dabei nicht stehen bleiben. Angst verengt den Blick. Wir sollten uns stärker mit Fragen beschäftigen, die das Potenzial dieser Krise in den Blick nehmen. Was verändert sich generell in der Arbeit, nachdem jetzt sehr viele das Homeoffice kennenlernen und oftmals nicht mehr nach Zeit, sondern nach Ergebnissen bezahlt werden? Geht mit der anderen Organisation des Alltags nicht auch eine andere Selbstfürsorge einher? Ich sehe eine große Solidarität unter Nachbarn, mit kleinen Geschäften oder Taxifahrer, die Pflegekräfte in der Nacht kostenfrei nach Hause fahren. Wunderbare solidarische Aktionen! Wir reden darüber viel zu wenig, dass wir durch solche Aktionen gerade ganz selbstwirksam die Krise bewältigen. Wie schaffen wir es, uns mit der momentanen Herausforderung anzufreunden und vor allem darüber hinaus zu denken: Stop and Grow.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit Stop and Grow?

Meyer-Legrand: Halte inne und wachse. Dieses Motto biete ich den Kriegsenkeln an, den Jahrgängen, die seit Ende der Siebziger – auch aufgrund einer ersten großen Krise, nämlich der großen Arbeitslosigkeit in dieser Zeit – mit ihrer Experimentierfreudigkeit der Bundesrepublik ein neues Profil verliehen haben. Die sich immer wieder neu erfinden, um dann zeitweilig erschöpft innezuhalten, die zwischen Stillstand und Rastlosigkeit hin und her pendeln. Stop and Grow! So sollten wir generell mit Krisen umgehen.

"Kriegsenkel haben das Durchhalten gelernt"

ZEIT ONLINE: Sie haben sich auf die therapeutische Arbeit mit Kriegsenkeln spezialisiert. Wie groß ist diese Gruppe eigentlich?

Meyer-Legrand: Kriegsenkel sind all die, die von den Kriegskindern (Jahrgang 1928 bis 1946) abstammen. Es sind die, die heute überwiegend das Geschick unseres Landes bestimmen, in der Verantwortung stehen. Und die seit Ende der Siebziger bereits so etwas wie die "Neuformulierung der Grammatik von Lebensformen", wie Habermas es nannte, vorgenommen haben. Kriegsenkel sind diejenigen, die sich mit dem Experimentieren auskennen und die bis heute vielfach noch immer auf der Suche nach dem Sinn des Ganzen sind. Sie verfügen über ein großes Potenzial, das für die Bewältigung dieser Krise essenziell ist.

ZEIT ONLINE: Sie beschreiben in Ihrem Buch Die Kraft der Kriegsenkel, dass viele von ihnen heute sehr erfolgreiche Biographien vorweisen können.

Meyer-Legrand: Ja, sie sind einfach gewohnt, selbst zu entscheiden, was zu tun ist, da sie quasi allein groß geworden sind. Denn zwischen ihnen und ihren Kriegskindereltern kam es oft zu einer Rollenumkehr. Sie waren die Eltern für ihre traumatisierten Eltern. Kriegsenkel sind mit Eltern aufgewachsen, die von der nationalsozialistischen Erziehung, vom Krieg, der Flucht und Vertreibung traumatisiert wurden. Sie haben Hunger und Vergewaltigungen erlebt und sind mit sehr harten Schicksalen in der frühen Bundesrepublik und der DDR angekommen, ohne dass ihre Erfahrungen ausreichend thematisiert wurden. Wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass 60 Prozent der deutschen Kriegskinder traumatisiert waren. Für Jüdinnen und Juden nach der Verfolgung und Vernichtung im Holocaust gilt, dass die Überlebenden zu mehr als 90 Prozent traumatisiert waren.

Ihre Eltern waren häufig emotional abwesend und kreisten um ihr eigenes Leid.

ZEIT ONLINE: Sie sagen, dass viele der Kriegsenkel aus den Traumatisierungen der Eltern die durchaus richtigen Schlüsse gezogen haben. Wie aber sah denn ein Aufwachsen mit solchen Eltern genau aus?

Meyer-Legrand: Oft fehlte den Kriegsenkeln die verlässliche Kommunikation mit einer Bezugsperson, eine, die sagt, dass man gut ist, so wie man ist, dass es reicht, was man macht. Mit diesen traumatisierten Eltern groß zu werden bedeutete, dass für die vitalen Bedürfnisse der Kinder kein Platz war. Ihre Eltern waren häufig emotional abwesend und kreisten um ihr eigenes Leid. Die Kinder spürten, dass die Eltern Hilfe brauchten und sie begannen, die Eltern zu versorgen. Wer so aufwächst, erlebt vor allem, dass man immerzu leisten muss, um den anderen zu erreichen. Das ist leidvoll, andererseits resultiert daraus häufig eine große Fähigkeit, schon früh Verantwortung zu übernehmen, alles zu überblicken, Führungskompetenzen also, und ein unglaubliches Durchhaltevermögen – etwas, worauf Kriegsenkel heute in der Krise zurückgreifen können. Das haben sie in ihren Herkunftsfamilien gelernt.

ZEIT ONLINE: Was bedeutet das für die aktuelle Politikergeneration?

Meyer-Legrand: Sie sind die Kriegsenkel, die aus der Reflexion ihrer Biographien, in denen das Aufwachsen bei Menschen, die von den Auswirkungen des NS traumatisiert waren, viel gelernt haben. Auf jeden Fall zeigen sie zurzeit ein sehr demokratisches Management in dieser zweifellos großen Krise. Sie bemühen sich um Transparenz, was sich zum Beispiel in der Diskussion um die Corona-App zeigt. Anders als in autoritären Ländern erkennt man, dass sie eine demokratische Tradition verkörpern.

"Wer wollen wir eigentlich nach der Krise sein?"

ZEIT ONLINE: Mit welchen Problemen haben Kriegsenkel privat zu tun?

Meyer-Legrand: Sie haben gelernt, auszuhalten, in schwierigen Beziehungen auszuharren, mitunter bis zur Erschöpfung. Sie haben ebenso früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Im Beruf überfordern sie sich häufig, weil sie sich zumeist gleich für den ganzen Laden verantwortlich fühlen. Für sie ist es wichtig, zu lernen, mehr zu verhandeln, sich besser abzugrenzen und mehr Selbstfürsorge zu entwickeln.

ZEIT ONLINE: In welchen Lebenssituationen kommen die Menschen zu Ihnen und wenden sich an Sie als Coachin?

Meyer-Legrand: Häufig in der Mitte des Lebens – nachdem sie schon vieles ausprobiert haben und oftmals mehrere Job- oder auch Beziehungswechsel hinter sich haben. Denn viele aus der Generation sind nach wie vor auf Sinnsuche. Seit den Siebzigerjahren haben viele sukzessive die sogenannte Normalbiographie mit den Stationen Schule, Beruf, Ehe, Familie, Rente zugunsten einer Patchworkbiographie aufgegeben. Oft, ohne das in der Konsequenz zu wollen. Viele fühlen sich wie aus der Umlaufbahn einer verlässlichen Normalbiographie herauskatapultiert und fragen sich, wie sie endlich ankommen können. Auf ihrem Platz, in einer Beziehung, in der Gesellschaft.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielten dabei die Eltern?

Meyer-Legrand: Kriegsenkel sind einerseits kreativ mit den Herausforderungen "ihrer Zeit" umgegangen, haben aber auch im Auftrag ihrer Eltern gehandelt, die sie aufforderten: Mach etwas aus deinem Leben, wir konnten es nicht! Mit diesem Auftrag in der Tasche haben sich viele aufgemacht, haben studiert und ihr Herkunftsmilieu verlassen. Häufig sind sie im Dazwischen gelandet, weder im alten noch im neuen Milieu wirklich zu Hause. Dies gilt sowohl für West- wie für Ost-Biographien. Oftmals machen sie sich Vorwürfe, empfinden Scham, weil sie vermeintlich zu lange mit ihrem Leben herumexperimentiert haben. Viele meinen deshalb, persönlich versagt zu haben. Meine Aufgabe sehe ich darin, die persönlichen Entscheidungen der Einzelnen wieder in den genannten gesellschaftlichen Kontext zu stellen und nachvollziehbar zu machen, wie man bei bestimmten Entscheidungen sowohl vom Zeitgeist der Gesellschaft als auch von den Aufträgen der Eltern beflügelt worden ist. Dann lassen sich Veränderungen in den Blick nehmen.

Mit Depressionen haben wir es in Zeiten von Social Distancing vermehrt zu tun

ZEIT ONLINE: Sie haben gesagt, dass krisenhafte Momente wie Burn-out oder Depression auch eine gute Seite haben. Worin besteht die?

Meyer-Legrand: Ein Burn-out oder auch eine Depression sind starke Signale, einmal alles anzuhalten. Insofern sind das kompetente Lebensäußerungen und zwar in dem Sinne, den bisherigen, erschöpfenden Way of Life einmal zu hinterfragen. Depressionen entstehen oftmals bei mangelnden sozialen Kontakten, das haben wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt. Damit haben wir in diesen Zeiten des Social Distancing vermehrt zu tun. Viele Kriegsenkel leben häufig allein und verfügen über wenige soziale Kontakte. Wenn dann auch noch die letzten persönlichen Bezugspunkte wegfallen, setzt sich eine Spirale von Einsamkeitsgefühlen und Angst in Gang oder eben Depressionen. Die Sehnsucht nach Nähe ist groß und läuft ins Leere. Umso mehr müssten wir jetzt darüber nachdenken, wie wir unser soziales Netz lebendig halten und stärken können.

ZEIT ONLINE: Wie ließe sich das konkret umsetzen?

Meyer-Legrand: Miteinander sprechen hilft. Wir sollten den Mut haben, uns über die Ängste auszutauschen. Auch Angst ist eine Botschafterin achtenswerter Bedürfnisse. Sie teilt uns mit, was wir brauchen und vermissen. Viele nutzen die aktuelle Situation auch schon, über Telefon oder Skype wieder in engeren Kontakt mit Menschen zu kommen, mit denen man lange nicht mehr gesprochen hat.

ZEIT ONLINE: Wir wissen, dass Ängste zwischen den Generationen übertragen werden. Zeigt sich das auch jetzt?

Meyer-Legrand: Ja, weil Kriegsenkel mit den ständigen Warnungen der Eltern aufgewachsen sind, die wie Leitplanken wirken. Es ist gut möglich, dass die momentanen Einschränkungen da auf ein altes Wertesystem treffen. Viele Kriegsenkel fragen sich: Welche Ängste trage ich da eigentlich mit mir herum? In einer Krise werden solche Ängste stärker aktiviert. Es lohnt sich, sie sich genauer anzuschauen und auf die in ihnen schlummernden Ressourcen hin zu untersuchen. Wir könnten uns natürlich auch fragen, was wir heute von den Krisenbewältigungsstrategien der älteren Generation noch gebrauchen können. Das heißt: Wir sollten sowohl zurückschauen als auch weit in die Zukunft gehen und uns fragen: Wer wollen wir eigentlich nach der Krise sein und in welchem Land wollen wir leben?  Das setzt das Potenzial frei, das wir in der aktuellen Situation gebrauchen können.