Stefan Liebig ist ein deutscher Soziologe. Er hat den Lehrstuhl für Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld inne. Seit Anfang 2018 ist Liebig zudem im Vorstand des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin und dort Leiter des Sozio-oekonomischen Panels.

ZEIT ONLINE: Herr Liebig, wann ist man arm in Deutschland?

Stefan Liebig: Das kann man ganz unterschiedlich definieren: Armutsgefährdet ist man beispielsweise, wenn man weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erhält beziehungsweise verdient. In Deutschland liegt diese Schwelle für einen Alleinstehenden bei etwa 1.000 Euro pro Monat.

ZEIT ONLINE: Ein Hartz-IV-Empfänger hat deutlich weniger. Der wäre also arm – und nicht nur armutsgefährdet?

Liebig: Armut ist in einem so reichen Land wie Deutschland immer auch relativ. Wie viel besitze ich im Vergleich zu anderen Menschen? Nur eins ist klar: Absolute Armut gibt es in Deutschland nicht. Dann könnte man sich keine Nahrung, keine Wohnung oder keine Kleidung leisten. In eine solche Situation muss in Deutschland aber niemand geraten. Der immer noch gut ausgebaute Sozialstaat beugt dem vor.

ZEIT ONLINE: Rund 1,5 Millionen Menschen gehen zur Tafel, die Zahlen steigen sogar. Für einige ist das ein Beleg für die zunehmende Armut in Deutschland. Stimmt das?

Liebig: Die Debatte ist oft fehlgeleitet. Eine Tafel gibt kostenlos Lebensmittel ab. Für jemanden mit einem sehr knappen, monatlichen Budget ist es nur logisch, dass er diese Möglichkeit nutzt. Das gesparte Geld kann er dann sinnvoll woanders einsetzen. Das ist rational: Wenn ich eine Reise buchen will, schaue ich doch auch, wo bekomme ich das günstigste Angebot? Niemand würde in Deutschland verhungern, wenn er nicht zur Tafel gehen würde.

ZEIT ONLINE: Fast wöchentlich erscheinen neue Statistiken, die belegen, dass die Armutsgefährdung in Deutschland in den vergangenen Jahren immer weiter zugenommen hat. Stimmt das alles also nicht?

Liebig: Man muss ganz genau hinschauen. Als ich noch an der Universität Bielefeld war, habe ich meinen Studenten immer die gleiche Frage gestellt: Wer verdient weniger als 1.000 Euro im Monat? Von den mehr als 500 Studenten hat eine große Mehrheit die Hand gehoben. Sie gelten rein statistisch als armutsgefährdet, und ihr Anteil an der Bevölkerung hat zugenommen. Aber tatsächlich würde sie niemand als arm bezeichnen. Sie beziehen vorübergehend wenig Einkommen und investieren viel Zeit in ihre Bildung, um später ein höheres Einkommen zu erzielen.

Wir als Gesellschaft müssen definieren, was sich ein Mensch, der komplett auf staatliche Unterstützung angewiesen ist, leisten können muss.
Stefan Liebig

Gleichzeitig haben wir in den vergangenen Jahren sehr viele Migranten und Flüchtlinge aufgenommen. Auch das hat dazu geführt, dass die Armutgefährdungssquote gestiegen ist. Wenn wir über Armut sprechen, muss man genau definieren, welche Gruppe man meint. Flüchtlinge? Alleinerziehende? Hier muss eine vernünftige Sozialpolitik ansetzen, um diesen Personen durch genau für sie passende Maßnahmen besser zu helfen.

ZEIT ONLINE: Sie sagen selbst: Deutschland ist ein reiches Land: Muss unser Anspruch nicht höher sein, als nur absolute Armut zu verhindern?

Liebig: Ja, natürlich kann man zu diesem Schluss kommen. Wir als Gesellschaft müssen definieren, was sich ein Mensch, der komplett auf staatliche Unterstützung angewiesen ist, leisten können muss. Einem Hartz-IV-Bezieher sollte es etwa möglich sein, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, indem er ins Kino oder zu einer Kulturveranstaltung gehen kann.