Wie die Polizei Millionen Autofahrer mit einem System überwacht, das nicht funktioniert

    Fehlerquoten zwischen 93 und 98 Prozent - und trotzdem wird seit Jahren die gesamte Bevölkerung mit der Kennzeichenerfassung überwacht.

    +++ UPDATE: Das Bundesverfassungsgericht hat Anfang Februar die bisherige Praxis der Kennzeichenerfassung für teilweise verfassungswidrig erklärt. +++

    Die Polizei hat hunderte Millionen Kennzeichen deutscher Autofahrer erfasst, obwohl die dafür verwendete „automatische Kennzeichenerfassung“ extrem fehlerhaft ist. Ursprünglich sollte damit organisierte und schwere Kriminalität bekämpft werden. Recherchen von BuzzFeed News Deutschland zeigen nun jedoch: die Kennzeichenerfassung der Polizei funktioniert nicht.

    Demnach liefert die Überwachungs-Technologie regelmäßig Fehlerquoten von weit über 90 Prozent, obwohl sie schon mehr als zehn Jahre lang im Einsatz ist. Gleichzeitig lassen sich die schweren Verbrechen, für die die Kennzeichenerfassung einst eingeführt worden war, damit nicht ermitteln: Bei den wenigen „Echttreffern“ kommen fast nur vergleichsweise harmlose Delikte wie eine fehlende Versicherung zum Vorschein.

    Die mangelhafte Erfassung der Kennzeichen bedeutet nicht nur sehr viel zusätzliche Arbeit für deutsche Polizisten. Sie stellt auch die Rechtsgrundlage für die Erfassung in Frage. Noch in diesem Jahr will das Bundesverfassungsgericht dazu urteilen.

    Die Gründe für die hohen Fehlerquoten sind nach Recherchen von BuzzFeed News seit Jahren bekannt – abgestellt wurden sie bislang jedoch nicht. So können manche Systeme noch immer keine Leerzeichen verarbeiten, verwechseln Buchstaben und Zahlen oder sind schlicht mit schlechtem Wetter und der Dämmerung überfordert.

    • Beispiel Hessen: Hier meldeten die Geräte in den Jahren 2016 und 2017 insgesamt 7.170 angebliche Treffer. Nach Überprüfung durch die Polizeibeamten verblieben nur noch 492 sogenannte „Echttreffer“ – eine Fehlerquote von 93 Prozent.
    • In Sachsen zeigen die Geräte in 2016 und 2017 insgesamt 31.831 mal einen Treffer an. Nach Überprüfung durch die Polizei verblieben 873 – was einer Fehlerquote von 97,25 Prozent entspricht.
    • Für Bayern ist das Ergebnis noch drastischer: von fast 1,46 Millionen Treffermeldungen durch das System in 2016 und 2017 waren insgesamt höchstens 30.480 sogenannte „Echttreffer“ – eine Fehlerquote von 97,91 Prozent.

    Ausführlich schlüsseln wir alle Zahlen und Statistiken zu den einzelnen Ländern am Ende dieses Artikels auf – und stellen dort auch die gesamten Rohdaten mit allen Quellen zur Verfügung.

    Warum die Kennzeichenerfassung kaum schwere Straftaten aufdeckt

    Die Kritik an der Kennzeichenerfassung ist nicht neu. Schon im Herbst 2013 antwortete beispielsweise das Bundesinnenministerium auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag: „Wie jede staatliche Maßnahme unterliegt auch der Einsatz automatischer Kennzeichenlesegeräte (...) dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall. Daher können diese Maßnahmen nur bei entsprechend schwerwiegenden Straftaten oder Gefahren in Betracht kommen.“

    Die Realität aber sieht anders aus. In den wenigen Fällen, in denen tatsächlich ein gesuchtes Kennzeichen vom System gemeldet wurde, dominierten in den vergangenen Jahren eben keine schwerwiegenden Straftaten. Im Gegenteil. Gefunden werden größtenteils Autos, deren Halter die Versicherung nicht bezahlt haben. Vergleichsweise groß ist auch der Anteil an Tankbetrug oder gestohlenen oder verlorenen Kennzeichen.

    „Regelmäßig sind Kennzeichen auch „zur Beobachtung“ oder „zur Kontrolle“ ausgeschrieben. Das sind dann Suchen, die von vornherein gar nicht darauf angelegt sind, etwas sicherzustellen oder eine Straftat zu verfolgen“, kritisiert der Jurist und Bürgerrechtler Patrick Breyer von der Piratenpartei, der seit Jahren auch vor Gerichten gegen die Kennzeichenerfassung kämpft.

    Der Anteil sogenannter „Schengen-Treffer“ – also grenzüberschreitender Fahrzeugdiebstahl oder illegale Einreisen innerhalb des Schengenraumes – ist extrem niedrig: In Sachsen kommen auf 10.000 bei der Polizei gemeldete Treffer gerade einmal 7 „Schengen-Treffer“.

    Trotz dieser Fragezeichen wird das System nicht nur von den Bundesländern fortgeführt, es wird sogar ausgebaut: Auch die Bundespolizei nimmt aktuell Geräte zur Kennzeichenerfassung in Betrieb. Allein für den dortigen Testlauf werden Kosten von fast einer Million Euro anfallen. Im Gesetzentwurf, der mit den Stimmen von CDU und SPD im Innenausschuss bestätigt wurde, ist von der Kennzeichenerfassung „als wichtiges, in Bundesländern bereits erprobtes Hilfsinstrument“ die Rede. Die nun von BuzzFeed News recherchierten Zahlen aus den Bundesländern aber lassen Zweifel aufkommen, ob dem tatsächlich so ist.

    Wie es zu den Fehlern kommt

    Der ehemalige sächsische Innenminister Markus Ulbig erklärte auf eine Anfrage des Linken-Abgeordneten Enrico Stange, die Differenz zwischen „Treffer“ und „Echttreffer“ könne „unterschiedliche Ursachen haben, welche nicht abschließend bestimmt werden können.“ So könne es aufgrund von „Witterungsverhältnissen, Tageszeit, Verschmutzungen des Kennzeichens“ oder weil die „Zeichenkette korrekt erkannt wurde, jedoch eine Datenübereinstimmung nur deshalb gemeldet wurde, weil der Abgleich der Zeichenkette ohne Trennzeichen erfolgt“ zu Fehlern kommen.

    In Hamburg muss der Innensenator der Bürgerschaft jährlich einen Bericht über besondere Maßnahmen wie Telefonüberwachung oder auch Kennzeichenerfassung vorlegen. Darin heißt es, „Ablesefehler“ seien „systemimmanent und beruhen darauf, dass das System die Kombination der Kfz-Kennzeichen aus Buchstaben und Zahlen nicht in jeder Hinsicht hinreichend unterscheiden kann.“ So würden Leerzeichen und Trennstriche ignoriert und die Ziffern „0“ und „1“ könnten nicht von den Buchstaben „O“ und „I“ unterschieden werden.“

    Ist dieser Grundrechtseingriff gerechtfertigt?

    Deutsche Autofahrer werden also von Systemen überwacht, die weder mit Dämmerung noch mit Niesel umgehen können, die ein I nicht von einer 1 und ein O nicht von einer 0 unterscheiden können. Das wirft nicht nur Fragen nach der technischen Reife der Systeme auf, sondern auch eine Reihe rechtlicher Fragen:

    1. Ist dieser Eingriff in Grundrechte gerechtfertigt?
    2. Müssten Bürger nicht darüber informiert werden, dass ihre Kennzeichen erfasst werden?
    3. Ist die Einschüchterungswirkung so groß, dass sie Grundrechte gefährdet?
    4. Welche Straftaten findet man da überhaupt?
    5. Und ist das System nicht sinnlos, wenn es zwar Treffer meldet, die Autos danach aber weiterfahren dürfen?

    1. Warum Bürger hier einen Grundrechtseingriff hinnehmen müssen

    Am klarsten ist noch die Frage nach dem Grundrechtseingriff – denn die ist unstrittig. Wird ein Kennzeichen aufgenommen (und in Verbindung mit weiteren Informationen wie Ort, Datum und Fahrtrichtung gespeichert), werden personenbezogene Daten erfasst. Damit handelt es sich bei der Kennzeichenerfassung um einen Eingriff in ein Grundrecht. Und zwar das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.

    Das hat das Bundesverfassungsgericht 2008 zweifelsfrei festgestellt. Zwar hat das Gericht auch festgestellt, dass dieser Grundrechtseingriff hinzunehmen ist – allerdings nur, wenn die erhobenen Daten bei einem Nicht-Treffer sofort wieder gelöscht werden.

    Unsere Auswertung ergibt: Allein 2016 und 2017 gab es mehr als 1,5 Millionen Mal eine falsche Treffermeldung – und damit 1,5 Millionen Fälle, in denen die Nicht-Treffer eben nicht sofort gelöscht wurden, weil sie von einem Polizeibeamten von Hand überprüft werden mussten.

    Muss man auch das hinnehmen? Ja, urteilte fünf Jahre nach den Karlsruher Richtern das Bundesverwaltungsgericht 2013 in Leipzig: „Ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung liegt nicht vor, wenn (...) ein visueller Abgleich durch den damit betrauten Polizeibeamten aber eine mangelnde Übereinstimmung ergibt und das erfasste Kennzeichen sofort gelöscht wird (...).“

    2. Wer nichts weiß, kann sich nicht wehren

    Auch der zweite Punkt wirft Fragen nach der Rechtmäßigkeit der Kennzeichenerfassung auf: Bürger wissen gar nicht, wann sie erfasst werden. Es gibt keinen Blitz, keine Schilder, keinerlei Hinweise. Oftmals erfolgt die Erfassung sogar von hinten.

    Rechtlich gesehen ist die Kennzeichenerfassung aber ein Verwaltungsakt – und gegen solche haben Bürger grundsätzlich die Möglichkeit, gerichtlich vorzugehen, um deren Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen. Weiß man von der Erfassung allerdings gar nichts, besteht auch keine effektive Möglichkeit, sie prüfen zu lassen.

    Für Clemens Arzt, Polizeirechtler und Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, eine klare Sache. „Ich muss wissen, dass ich überwacht werde, damit ich mich gegebenenfalls dagegen auch wehren kann“, so Arzt im Telefongespräch mit BuzzFeed News. „Da müsste zum Beispiel ein Schild hin, wenn die Maßnahme anfängt. Und zwar vor der Ausfahrt davor, damit ich noch rausfahren kann, wenn ich das nicht will.“ Bei der Bodycam oder der Videoüberwachung sei das schließlich ähnlich. „Da ist unter Juristen auch die vorherrschende Meinung: Bereits verfassungsrechtlich ist gefordert, dass das gekennzeichnet sein muss.“

    3. Vom Recht auf „datenfreie Fahrt“

    Ja, es wird in ein Grundrecht eingegriffen. Ja, das muss man hinnehmen. Und nein, man weiß nicht, wann. Dieses Rezept sorgt nun für etwas, das Juristen 'Einschüchterungswirkung' nennen.

    „Es entsteht ein Gefühl des Überwachtwerdens, wenn auch der individiduelle tatsächliche Eingriff gering sein mag.“ So fasst es Michael Robrecht von der Sächsischen Hochschule der Polizei in einem Aufsatz 2008 zusammen. „Zu berücksichtigen ist demnach, wie der Grundrechtsträger die Maßnahme empfindet, nicht welchem objektivem Zweck sie dient bzw. wie tief der Eingriff sich nach traditionellem Verständnis qualitativ darstellt.“ Allein die Tatsache, dass Menschen sich zu Unrecht überwacht fühlen, stelle die Kehrseite des Sicherheitsgefühls dar, das mit der Technik eigentlich erreicht werden sollte.

    Ein Punkt, den auch Polizeirechtler Clemens Arzt kritisch sieht: „Die Frage ist: Was ist denn, wenn ich mich im Straßenverkehr einfach nicht mehr bewegen kann, ohne jeden Moment damit zu rechnen, dass ich überwacht werde? Das steigert die Eingriffsintensität zunächst mal ganz erheblich.“

    Der Polizeirechtler jedenfalls sieht ein Recht auf „datenfreie Fahrt“ und glaubt, das dieses immer mehr verwässert. Auch, weil nicht überall ausgeschlossen ist, dass mehr als nur das Kennzeichen erfasst wird.

    So musste der Senat 2007 in Hamburg auf eine Anfrage von Antje Müller von der „Grün-Alternativen Liste“ hin einräumen, dass mehr als nur das Kennzeichen aufgenommen wird.

    Frage: Was wird aufgenommen (nur das Kennzeichen oder das gesamte Fahrzeug mit Insassen)?
    Antwort: Auf dem Lichtbild ist das gesamte Fahrzeug abgebildet.

    Und in Sachsen erklärte das Innenministerium 2017 auf eine Anfrage des Linken-Abgeordneten Enrico Stange:

    Sobald das Gerät (...) ein Kraftfahrzeugkennzeichen erfasst, wird von der Frontansicht des dazugehörigen Fahrzeuges eine elektronische Bildaufnahme (...) gefertigt. Systembedingt wird dabei auch der Fahrer des Fahrzeuges erfasst.

    4. Schwere Verbrechen? Fehlanzeige.

    „Natürlich wird da ein gewisser Generalverdacht ausgesprochen. Das finde ich auch nicht gut“, sagt Dieter Müller, Professor für Straßenverkehrsrecht an der Hochschule der Sächsischen Polizei und im Deutschen Verkehrssicherheitsrat Vorsitzender des juristischen Beirats. „Aber da sagt das Bundesverfassungsgericht eindeutig: Wer sich in den Straßenverkehr begibt, der muss sich messen lassen. Das ist nicht unverhältnismäßig“, sagt Müller im Telefongespräch mit BuzzFeed News. „Hier stellen sich jetzt aber schon Fragen, und zwar insofern, als dass man die Kennzeichenerfassung ja mal eingeführt hat, um schwerer und organisierter Kriminalität vorzubeugen.“

    Die Recherchen von BuzzFeed News zeigen, dass dies nur in äußerst wenigen Fällen geschieht. Die nach einer Kennzeichenerfassung ermittelten Delikte erfassen zwar nur Sachsen und Hessen. Diese Datenbasis ist allerdings groß genug, um Trends zu analysieren. Unsere Auswertung der dort in 2016 und 2017 insgesamt erhobenen Zahlen zeigt:

    • In 59 Prozent der Fälle wurden Verstöße gegen das Pflichtversicherungsgesetz festgestellt.
    • In fast 11 Prozent der Fälle konnten gestohlene Kennzeichen gefunden werden.
    • Hinzu kommen Delikte wie Tankbetrug, gestohlene Kennzeichen oder Verlust des Kennzeichens.

    Der Anteil sogenannter „Schengen-Treffer“ – also grenzüberschreitender Fahrzeugdiebstahl oder illegale Einreisen innerhalb des Schengenraumes – ist dagegen kaum messbar: Er macht in Sachsen 0,07 Prozent aller bei der Polizei gemeldeten Treffern aus.

    Ein erheblicher Teil der sogenannten „Echttreffer“ kommt außerdem eher zufällig zustande: denn immer dann, wenn Fahrzeuge aus ganz anderen Gründen ausgeschrieben waren als denjenigen, die nach einer Kontrolle zu Folgemaßnahmen führten, wird das trotzdem als Erfolg in die Statistik gezählt - Polizei-intern spricht man hier vom „Beifang“.

    „Und da muss sich jetzt schon die Frage stellen: Ist das noch im Sinne des Gesetzeserfinders? Ich glaube, das ist es nicht mehr“, sagt Verkehrsrechtler Müller. „Eine zügellose Ausweitung erfüllt nicht den ursprünglichen Gesetzeszweck. Also müsste man sich Gedanken machen, ob man das Gesetz anpasst oder ob man sagt: Das Ganze ist jetzt leergelaufen, wir brauchen das jetzt nicht mehr.“

    5. „Das geht für mich in Richtung 'Strafvereitelung im Amt'.“

    Einschüchterungswirkung und Grundrechtseingriff, Unsichtbarkeit und geringere Delikte: All das wäre für Verkehrsrechtler Müller hinnehmbar, wenn mit der Kennzeicherfassung im Gegenzug unmittelbar Straftäter gefasst würden. Genau das passiert aber nicht. „Die Kennzeichenerfassung müsste mit einer sofortigen Anhaltekontrolle verbunden werden“, sagt Müller. „Die wurde ja ursprünglich eingeführt für Schwerstkriminalität, für Autodiebstähle und Grenzkriminalität. Und da halte ich es erstmal für ein gutes Mittel, um herauszufinden, ob sich da Straftäter auf den Straßen bewegen – wenn man bei einem Treffer diese Person sofort herauszieht und ihr der Straftatverdacht vorgehalten wird.“

    Im Nachgang zu ermitteln, wer genau gefahren ist, sei sehr schwierig. „Wenn ein Trefferfall da ist, habe ich ja eine potentielle Straftat entdeckt. Und dann spricht für mich nichts dafür, den Straftäter fahren zu lassen“, sagt der Verkehrsrechtler. „Für mich ist es aber ein sinnloses Mittel, wenn man die Treffer dann hat, aber nicht sofort verfolgt. Das geht für mich sogar in die Richtung der Strafvereitelung im Amt.“

    Mahnende Stimmen meldeten sich übrigens schon 2004 zu Wort, als deutsche Polizeien erstmals über die Kennzeichenerfassung nachdachten. Damals verabschiedeten beispielsweise die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder eine gemeinsame Entschließung, in der es hieß: „Es ist zu befürchten, dass mit dem Einsatz der automatischen Kfz-Kennzeichenerfassung eine neue Infrastruktur geschaffen wird, die künftig noch weit tiefergehende Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht ermöglicht.“ Nach den Urteilen aus Karlsruhe 2008 und Leipzig 2013 ist es ruhig geworden um das Thema - doch das könnte sich schon bald ändern. Nicht nur, weil auch einige der Datenschutzbeauftragten sich wieder zu Wort meldeten. Sondern auch, weil die Kausa Kennzeichenerfassung wieder in Karlsruhe liegt: Gegen die Ermächtigung für die Bundespolizei hat Patrick Breyer von der Piratenpartei Verfassungsbeschwerde eingelegt, gegen die entsprechenden Landesgesetze in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg sind bereits Beschwerden anhängig - zu denen die Karlsruher Richter noch dieses Jahr urteilen wollen.


    Kennzeichenerfassung in den Bundesländern

    Im folgenden wir für jedes der 16 Bundesländer den aktuellen Stand der Kennzeichenerfassung sowie kurze Hintergrundinformationen zur Verfügung.

    Baden-Württemberg: Testlauf mit 92 Prozent Fehlerquote

    In Baden-Württemberg setzt die Polizei seit dem 29. Mai 2017 ein automatisches Kennzeichenlesesystem im Rahmen eines Pilotversuches ein. Eine flächendeckende Anwendung gebe es noch nicht, schreibt ein Sprecher des Innenministeriums auf Anfrage von BuzzFeed News. Aber: „Nach ersten Erfahrungen erscheint das Einsatzmittel vielversprechend.“ BuzzFeed News hat um genauere Informationen zur Auswertung gebeten. Das Innenministerium schreibt jedoch, diese seien zur Verschlusssache erklärt worden, weshalb man dazu nichts sagen könne.

    UPDATE: Baden-Württemberg legt Zahlen des Testlaufs vor

    Als Reaktion auf diese Recherche hat die FDP-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg von der Staatsregierung die Zahlen des Testlaufs erfragt. Demnach sind vom 29.5. - 29.11.2017

    - bei 82 Einsätzen

    - 138.000 Kennzeichen ausgelesen worden

    - von denen 840 vom System als Treffer gemeldet wurden.

    Nach Überprüfung durch die Polizeibeamten verblieben hiervon lediglich

    - 64 echte Treffer.

    Damit liegt die Fehlerquote des Testlaufs bei 92,38 Prozent.

    Die Landesregierung erklärte in ihrer Antwort dennoch, man sei mit dem Testlauf zufrieden. Die hohe Fehlerquote komme zustande, weil die Technik veraltet sei - man plane daher die Anschaffung modernerer Geräte.

    Die Landesregierung von Baden-Württemberg hatte außerdem überlegt, die Kennzeichenerfassung zur Durchsetzung von Diesel-Fahrverboten zu nutzen, zum Beispiel in Stuttgart. Jedoch waren die Datenschutzbedenken so groß, dass man von diesen Plänen wieder Abstand nahm.

    Bayern: 98 Prozent Fehlerquote

    Bayern ist das Bundesland mit den meisten gescannten Kennzeichen. Seit 2006 kommt die automatische Kennzeichenerfassung hier zum Einsatz. Heute sind 25 Systeme im Einsatz: 22 stationäre (an Autobahnen) und drei mobile Systeme. Diese Systeme melden in mehr als 98 Prozent der Fälle falsche Treffer.

    Trotzdem will Bayern noch weiter gehen: Derzeit wird das System nicht nur an einem fahrenden Streifenwagen getestet. Auch die neu eingerichtete bayrische Grenzpolizei wird vier weitere, mobile Anlagen erhalten.

    In Bayern kommen Systeme zum Einsatz, die von hinten erfassen. „Dass auf dem so erfassten Übersichtsbild vom Fahrzeugheck mit Kennzeichen auch Personen erkennbar sind, ist praktisch ausgeschlossen“, erklärte ein Sprecher des bayrischen Innenministeriums gegenüber BuzzFeed News.

    „Das Bundesland Bayern hat vor dem Bundesverfassungsgericht ja sogar erklärt, man nutze ein Verfahren, das beispielsweise aus "1" und "I" absichtlich dasselbe Zeichen macht. So soll vermieden werden, dass gesuchte Kennzeichen aus Versehen nicht erkannt würden. In der Praxis sorgt das natürlich dafür, dass eine erhebliche Zahl an falschen Treffern gemeldet wird, die im Nachgang von Beamten händisch wieder auszusortieren ist - und ohne jeden Anlass in die Grundrechte hunderttausender Menschen eingegriffen wird“, so Patrick Breyer von der Piratenpartei, der aktuell auch Verfassungsbeschwerden gegen die entsprechenden Landesgesetze in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg unterstützt.

    Korrektur

    Zu den Zahlen für das Bundesland Bayern ist uns bei der Veröffentlichung des Textes ein Fehler unterlaufen: Die Zahlen für „Echttreffer“ wurden auf monatlicher Basis angegeben. Die übrigen Zahlen auf Jahresbasis. Damit wurde auch die Trefferquote um etwas mehr als einen Prozentpunkt zu hoch angegeben. Wir haben die Zahlen im Text und in den Grafiken korrigiert und bitten für den entstandenen Fehler um Entschuldigung.

    Berlin: Keine Kennzeichenerfassung

    In Berlin kommt keine Kennzeichenerfassung zum Einsatz, so die Pressestelle der Berliner Polizei auf Anfrage von BuzzFeed News. Allerdings wurden Ende September für drei Tage an zehn Straßenabschnitten die Kennzeichen aller Fahrzeuge erfasst, um die Einhaltung von Luftreinhaltewerten zu überprüfen.

    Brandenburg: Kennzeichenerfassung bei konkreter Fahndung

    UPDATE: Brandenburg räumt dauerhafte Kennzeichenerfassung ein

    In Brandenburg gibt es keine dauerhafte Kennzeichenerfassung. Allerdings kann die Polizei in bestimmten Fällen konkrete Kennzeichen zur Fahndung in das Kennzeichen-Erfassungssystem – kurz: KESY – einspeisen.

    Typische Szenarien sind die Suche nach gestohlenen Bau- oder Landmaschinen, die Fahndung nach einzelnen PKW sowie die Verhinderung von konkreten Straftaten oder angekündigten Suiziden. An elf konkreten Standorten im Bundesland können diese Kennzeichen dann bei einer Vorbeifahrt geortet werden.

    Brandenburg erfasst lediglich die Anzahl der Anlässe, zu denen das System genutzt wird, nicht aber die Anzahl der Autos, die währenddessen erfasst wurden. Insofern kann die Fehlerrate hier nicht benannt werden.

    2017 wurde KESY zu 126 Anlässen genutzt. 22 Mal wurde dabei ein gesuchtes Kennzeichen erfasst. 2016 konnte das System bei 73 Suchen keinen einzigen Treffer verzeichnen.

    Bremen: Keine Kennzeichenerfassung

    Die Bremer Innenbehörde teilte auf Anfrage von BuzzFeed News mit, die Polizei Bremen habe 2006/2007 kurzzeitig ein Automatisches Kennzeichenlesesystem „zum Zwecke der technischen Erprobung eingesetzt. Auf Grund der datenschutzrechtlichen Lage wurde der Probelauf jedoch umgehend wieder beendet.“ Eine schriftliche Auswertung des Probelaufs sei nicht erfolgt.

    Hamburg: Systeme derzeit nicht einsatzbereit

    Hamburg besitzt Systeme zur Kennzeichenerfassung. Diese sind allerdings seit 2016 nicht einsatzbereit – „wegen softwareseitiger Mängel“, wie die Innenbehörde auf Anfrage von BuzzFeed News erklärte. Zuvor waren die Systeme zwei Jahre lang im Einsatz, im Jahr 2015 bei 13 Einsätzen und 2014 bei ebenfalls 13 Einsätzen.

    Hessen: 93 Prozent Fehlerquote

    In Hessen werden seit 2006 Kennzeichen automatisch erfasst. Zum Einsatz kommen dabei vier mobile Geräte und ein stationäres System. Das hessische Innenministerium übermittelte nach mehreren Anfragen von BuzzFeed News lediglich Zahlen für die Jahre 2016 und 2017.

    Im Herbst 2013 hatte das Innenministerium in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage schon einmal Zahlen für Dezember 2010 bis Juni 2013 veröffentlicht. Damals lag die Fehlerquote bei 94,17 Prozent. Hessen ist eines wenigen Bundesländer, in denen auch die Delikte statistisch erfasst werden.

    Mecklenburg-Vorpommern: Keine Statistik

    Im Mecklenburg-Vorpommern wurde 2006 eine entsprechende Vorschrift in das Landespolizeigesetz aufgenommen. Das Innenministerium antwortete auf die Anfrage von BuzzFeed News: „Im Land Mecklenburg-Vorpommern werden Daten zum Einsatz Automatischer Kennzeichenlesegeräte statistisch nicht erfasst/zusammengefasst.“

    Niedersachsen: Kennzeichenerfassung bei konkreter Fahndung

    Seit 2005 kann die Polizei in Niedersachsen Kennzeichenerfassungs-Systeme nutzen. Hierfür stehen ihr 13 Geräte zur Verfügung. Die Systeme werden dort nur zu konkreten Fahndungs-Anlässen genutzt.

    Im Jahr 2017 wurden nach Auskunft des niedersächsischen Innenministeriums 1.378 Treffer gemeldet. Nach Überprüfung verblieben noch 461 „Echttreffer“. Ein Sprecher des Innenministeriums teilte weiterhin mit, dass eine Statistik in Niedersachsen nicht erhoben würde und hierfür händisch Einsatzprotokolle ausgezählt werden müssten, weshalb für weiter zurückliegende Jahre keine Daten verfügbar seien.

    Auch eine Erfassung der Delikte erfolgt in Niedersachsen nicht. „Nach allgemeiner Auskunft der Polizeidirektionen lag der Schwerpunkt bei Verstößen gegen das Pflichtversicherungsgesetz. Zudem wurden vereinzelt weitere Delikte im Zusammenhang mit dem Führen / Halten von Kraftfahrzeugen festgestellt“, so das Innenministerium auf Anfrage.

    Nordrhein-Westfalen: Einsatz nur nach Anordnung

    In Nordrhein-Westfalen wurden nach Auskunft des Innenministeriums erstmals 2006 Geräte zur Kennzeichenerfassung angeschafft. Heute sind dort drei Geräte verfügbar, die allerdings nicht permanent den Verkehr überwachen, sondern nur nach einer richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Anordnung. Dies war in den letzten Jahren so häufig der Fall:

    • 2013: 0
    • 2014: 4
    • 2015: 0
    • 2016: 4
    • 2017: 2

    Wie oft dabei ein Treffer gemeldet wurde bzw. wie oft diese Treffermeldung sich als richtig oder falsch herausstellte, konnte das Innenministerium nicht sagen: „Die erbetenen Daten wurden und werden nicht erhoben und liegen insoweit nicht vor“, so eine Sprecherin auf Anfrage von BuzzFeed News.

    Rheinland-Pfalz: Keine Kennzeichenerfassung

    Saarland: Kennzeichenerfassung soll eingeführt werden

    Noch wird im Saarland keine Kennzeichenerkennung genutzt, da hierfür keine rechtliche Grundlage besteht. Doch das soll sich ändern: „Die Regierungsparteien haben allerdings in ihrem Koalitionsvertrag die Absicht bekundet, durch eine Änderung des Saarländischen Polizeigesetzes die polizeilichen Befugnisse zum Einsatz technischer Mittel zu stärken. Hierzu soll ausdrücklich auch der Einsatz von AKLS gehören“, so eine Sprecherin des Innenministeriums auf Anfrage von BuzzFeed News.

    Sachsen: 97 Prozent Fehlerquote

    In Sachsen werden seit 2013 Systeme zur automatischen Kennzeichenerfassung eingesetzt. Insgesamt hat die Polizei dort sechs mobile Systeme zur Verfügung. Auch hier ist derjenigen Anteil der Treffer extrem hoch, den die Systeme fälschlicherweise melden.

    Dank regelmäßiger Kleiner Anfragen grüner und linker Abgeordneter im Sächsischen Landtag und einem jährlichen „Bericht über die Datenerhebung mit besonderen Mitteln sowie mit technischen Mitteln zur mobilen automatisierten Kennzeichenerfassung durch die sächsische Polizei“, den der Innenminister dem Landtag vorlegen muss, ist die Datengrundlage in Sachsen am besten. So ist dort nicht nur die Häufigkeit der gefundenen Delikte bekannt, sondern auch die Einsatzstunden, die seitens der Polizei für die Kennzeichenerfassung aufgewendet werden.

    Sachsen-Anhalt: Keine Kennzeichenerfassung

    Schleswig-Holstein: Keine Kennzeichenerfassung

    Thüringen: Keine Kennzeichenerfassung


    Hintergrund: Wie die Kennzeichenerfassung funktioniert...

    Exemplarisch wird hier die Funktionsweise der Geräte in Hamburg erklärt, die sich aber von anderen Ländern kaum unterscheidet:

    • Nach dem Einschalten des Automatischen Kennzeichenlesesystems erkennt es selbstständig Fahrzeuge.
    • Das System fotografiert diese Fahrzeuge und sucht dann in dem aufgenommenen Bild ein Fahrzeugkennzeichen.
    • Wird ein Kennzeichen erkannt, wird dieses eingelesen und analysiert.
    • Anschließend erfolgt ein Abgleich des gelesenen Kennzeichens mit Datenbanken der Polizei.
    • Bei einem Treffer gibt das System einen Signalton ab und übermittelt das Bild an einen Computer, vor dem ein Polizeibeamter sitzt.
    • Der Beamte prüft, ob das System das Kennzeichen richtig oder falsch gelesen hat. Hier kommt es zu den hohen Fehlerquoten, denn die Systeme melden sehr oft fälschlicherweise einen Treffer.

    Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten der Umsetzung: Die Kennzeichenerkennung läuft mehr oder weniger das ganze Jahr über. Sie scannt Kennzeichen und schaut, ob diese in irgendeiner Datenbank der Polizei gesucht werden. So handhaben es Bayern, Sachsen und Hessen. Die zweite Möglichkeit: Die Geräte werden nur zu speziellen Anlässen aufgestellt und aktiviert – zum Beispiel, wenn Menschen vermisst werden oder nach konkreten Fahrzeugen gefahndet wird. So wird zum Beispiel in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen gearbeitet.

    ... und was sie den Steuerzahler kostet

    Für Geräte zur automatischen Kennzeichenerfassung haben Bundesländer und der Bund zwischen 25.000 und 100.000 Euro pro Gerät bezahlt.

    - Für den Testlauf in Hamburg beispielsweise wurden zwei Geräte mit einem Stückpreis von 30.577,60 Euro angeschafft.
    - Sachsen hat sich seine sechs Geräte 155.000 Euro kosten lassen.
    - Für die Bundespolizei werden im Gesetzentwurf Kosten in Höhe von 100.000 Euro pro Kennzeichenlesesystem benannt - für insgesamt acht anzuschaffende Systeme werden hier nur für den Testlauf 800.000 Euro fällig.

    Hinzu kommen die laufenden Kosten: also Unterhalt und Personal. Die Bundesregierung setzt für Wartung, Transport und Unterhalt 2,5 Prozent der Anschaffungkosten an, so dass dafür bei der Bundespolizei nochmal rund 20.000 Euro pro Jahr anfallen. An Personalkosten erwartet die Bundesregierung 55.000 Euro pro Jahr – was 6.875 Euro pro Gerät entspricht.

    BuzzFeed News kommt nach Auswertung aller Rückmeldungen und Unterlagen aus den Bundesländern auf insgesamt 66 Geräte, die im Bundesgebiet aktuell im Einsatz sind. Entsprechend der Betriebskosten, mit denen der Bund plant, dürften in den Ländern jährliche Personalkosten von rund einer halben Million entstehen – ohne Wartung und Unterhalt der Geräte.


    +++ Diese Recherche basiert auf Dutzenden Unterlagen aus sieben Bundesländern und dem Bund, die BuzzFeed News in den vergangenen Wochen ausgewertet hat, sowie auf zahlreichen Gesprächen mit Behörden und Rechtswissenschaftlern. Hier gibt es die Rohdaten und Links zu allen Dokumenten. +++