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Im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes haben Wissenschaftlerinnen der Medical School Berlin eine Studie zu Altersbildern und Altersdiskriminierung in Deutschland durchgeführt. Befragt wurden dafür 2000 Personen zwischen 16 und 96 Jahren. Die Studienleiterin, Professorin für Gerontopsychologie, Eva-Marie Kessler, spricht im Interview darüber, welches Bild in Deutschland vom Altsein gezeichnet wird und welche Folgen das haben kann.

Gerontopsychologin Eva-Marie Kessler wünscht sich mehr Räume für einen konstruktiven Generationendialog.

Gerontopsychologin Eva-Marie Kessler wünscht sich mehr Räume für einen konstruktiven Generationendialog.

Frau Professorin Kessler, Ihre Studie untersucht Ageismus. Was genau ist darunter überhaupt zu verstehen?

Der Begriff beschreibt, wie wir über Menschen – basierend auf ihrem Altsein – denken, fühlen und wie wir handeln. Genauer gesagt geht es um tief in unserer Gesellschaft verwurzelte Altersstereotype – alte Menschen seien gebrechlich, einsam, unflexibel – und um Ressentiments ihnen gegenüber. Ageismus meint zudem gelebte Praktiken, Strukturen bis hin zu Gesetzen, die Menschen ungerechtfertigt aufgrund ihres Lebensalters benachteiligen oder ihnen Ressourcen vorenthalten. Dazu gehört auch die gesellschaftliche Erwartung, dass sich alte Menschen eher aus der Gesellschaft zurückziehen und nicht zur Last fallen sollen. Ageismus kann sich auch gegen die eigene Person richten, etwa wenn eine 71-jährige Person von sich sagt „Sport? Nein, das mach ich nicht, dafür bin ich zu alt“.

Ageismus oder Altersdiskriminierung?

Der im Deutschen verwendete Begriff Ageismus ist angelehnt an das englische Wort „Ageism“. Auf internationaler Ebene wird er schon seit einigen Jahren verstärkt verwendet, vor allem in politischen Zusammenhängen und in der Forschung. Im Deutschen kommt „Altersdiskriminierung“ Ageismus am nächsten, ist allerdings enger gefasst, denn es geht dabei nur um offene Benachteiligung aufgrund von Lebensalter. Ageism hingegen meint zusätzlich etwas Subtileres, also zum Beispiel stereotype Vorstellungen von Alter, die jeder Mensch hat.

Altersdiskriminierung ≠ Altendiskriminierung

Altersdiskriminierung und Ageismus bezeichnen generell die Diskriminierung aufgrund des Alters und können daher auch junge Menschen treffen.

Ist dies das vorherrschende Bild, das unsere Gesellschaft von alten Menschen hat?

Ein zentrales Ergebnis unserer Studie ist, dass Befragte aller Altersgruppen nicht ein Altersbild haben, und dass nicht jedes Altersbild negativ ausfällt. Die Altersbilder der Befragten sind vielmehr ambivalent. Einerseits stimmten grob zwei von drei Befragten der Aussage eher oder voll und ganz zu, dass die meisten alten Menschen durch gesundheitliche Probleme im Alltag stark eingeschränkt und einsam seien und sich nicht mehr auf Veränderungen einstellen könnten. Andererseits ist eine überragende Mehrheit von 94 Prozent der Befragten auch der Überzeugung, dass es Menschen im Alter möglich sei, geistig und körperlich fit zu bleiben. Auch wird alten Menschen mehrheitlich ein gelassener und besonnener Umgang mit wichtigen Fragen des Lebens zugesprochen – nämlich von 73 Prozent.

Ähnelten sich die Altersbilder von jungen und alten Befragten?

Nur bedingt. Ältere Befragte hatten einen differenzierteren Blick auf das Alter als jüngere. Je älter sie sind, desto häufiger sehen Ältere die Potentiale im Alter, gerade die über 74-Jährigen sehen aber gleichzeitig auch häufiger die Probleme. Von diesem differenzierteren Blick alter und sehr alter Menschen würde unsere Gesellschaft enorm profitieren. Man müsste ihnen zukünftig eine stärkere Stimme geben, wenn es um ihre Belange geht.

Ältere Menschen erinnern uns immer auch daran, dass wir endlich sind und unser Körper fragil ist.

Was ist das Problem an negativen Altersbildern?

Wenn Altersbilder pauschal ausfallen, verhindern sie, dass die Individualität einer Person gesehen wird. Zum Beispiel wird ein alter Mensch, den der ambulante Pflegedienst pflegt, schnell als senil und depressiv eingestuft. Und das, obwohl er zwar körperlich eingeschränkt ist, aber noch über gute geistige Funktionen verfügt.

Wie kommt es, dass wir manchmal einseitige Altersbilder zeichnen?

Über den Ursprung von Ageismus gibt es verschiedene Theorien. Eine wesentliche Quelle ist sicher unsere Angst vor dem Tod. Ältere Menschen erinnern uns immer auch daran, dass wir endlich sind und unser Körper fragil ist. Diese Ängste gehören zwar zum Menschsein dazu, könnten aber durch weniger tabuisierte Diskurse über Krankheit und Tod abgemildert werden. Auch so könnte man Ageismus abbauen. Auf individueller Ebene sind außerdem ein männliches Geschlecht und geringere Bildung Risikofaktoren für ageistische Einstellungen und Verhaltensweisen.

Alte Menschen sind keine Minderheit. Warum hat die Antidiskriminierungsstelle diese Gruppe dennoch so sehr im Fokus?

Man muss keiner Minderheit angehören, um diskriminiert zu werden. Das zeigt ja auch das Beispiel Sexismus. „Alter“ ist zusätzlich noch eine Kategorie, die uns alle betrifft – entweder aktuell oder in Zukunft. Ageismus ist damit immer auch eine Art Kampfansage an das zukünftige Selbst.

Gab es zusätzlich einen aktuellen Anlass für die Studie?

Insbesondere im ersten Jahr der Corona-Pandemie wurden regelhaft die Wörter „Risikogruppe“ und „vulnerabel“ verwendet, wenn man über ältere Menschen gesprochen hat. Auf Fotos vieler Zeitungen oder auf Nachrichtenportalen wurden in diesem Zusammenhang meist „gesichtslose“ alte Menschen an Rollatoren gezeigt oder einfach nur faltige Hände.

Es war zu befürchten, dass sich diese, am Stereotyp des gebrechlichen und einsamen alten Menschen orientierte Mediendarstellung auf die Wahrnehmung und Beurteilung alter Menschen als schwache, zu beschützende und gleichzeitig kostenintensive Bevölkerungsgruppe auswirken würde. In dieser historisch bedeutsamen Situation war es wichtig, Einstellungen und Haltungen in Bezug auf alte Menschen und das Alter wissenschaftlich einzufangen.

Und sonst?

Auch das in den letzten Monaten stärker in Erscheinung getretene Thema der Klimaproteste hat es notwendig gemacht, die wahrgenommene Rolle älterer Menschen – speziell der Babyboomer – zu beleuchten, gerade aus der Perspektive junger Menschen.

Sind es denn in dem Fall nicht tatsächlich eher die jungen Leute und ihre politischen Ziele, die von den Älteren blockiert werden?

Wir haben mit einer Frage in der Tat auch die wahrgenommene gesellschaftliche Rolle älterer Menschen im Kontext des Klimawandels erfasst. Bei immerhin 40 Prozent der Befragten findet die Aussage Zustimmung, dass junge Menschen von alten Menschen bei der Bewältigung des Klimawandels im Stich gelassen werden. Bei Befragten in der jüngsten Altersgruppe fällt die Zustimmung zu dieser Aussage mit 56 Prozent deutlich höher aus als bei den über 65-Jährigen, wo es 23 Prozent sind.

Die einen empfinden es also so, die anderen so. Sind alte Menschen in Deutschland de facto benachteiligt?

Unsere Studie war eine Befragung, sie diente nicht dazu, objektive Diskriminierung zu untersuchen. Aber wir haben Einstellungen erfasst, die ein Risiko für Altersdiskriminierung in sich bergen.

Welche sind das zum Beispiel?

Unter anderem haben wir die Zustimmung zu beziehungsweise Ablehnung der Norm erfasst, dass man sich im Alter zurückziehen und nicht zur Last fallen soll. In ihr spiegeln sich am ehesten alters(selbst)diskriminierende Einstellungen und Verhaltenstendenzen wider. Bei der Aussage, dass sich alte Menschen mit ihrem Alter abfinden und nicht versuchen sollten, jung zu wirken, gab es 41 Prozent zustimmende Antworten. Und immerhin jeweils ein Drittel der Befragten stimmte der Aussage zu, dass alte Menschen wichtige berufliche und gesellschaftliche Rollen zugunsten Jüngerer aufgeben, und keine Last für die Gesellschaft werden sollten. Diese Erwartungshaltung war den bei älteren Befragten selbst besonders stark ausgeprägt.

Wieso gerade bei ihnen?

Man kann das als Hinweis auf einen verinnerlichten Ageismus bei älteren Befragten interpretieren. Aber auch so, dass es alten Menschen in unserer Gesellschaft an wahrgenommenen anderen Gelegenheiten mangelt, ihrer Fürsorge gegenüber der Gesellschaft einen anderen Ausdruck zu verleihen als sich zurückzuziehen und nicht zur Last zu fallen. Daraus ziehen wir die Schlussfolgerung, dass neue sozialkulturelle Rollen für ältere Menschen geschaffen werden müssen, in denen sie aktiv werden und ihre wahrgenommene Mitverantwortung ausleben können.

Welche Folgen kann Ageismus haben?

Das kann man am Beispiel Arbeit ganz gut verdeutlichen: Hier dominiert tendenziell immer noch das Altersstereotyp des weniger fitten und unproduktiven älteren Arbeitenden und führt dazu, dass ältere Menschen von Arbeitgebenden seltener Arbeitsplatzangebote und weniger Möglichkeiten für Weiterbildung und neue Aufgabenbereiche erhalten. Diesen Stereotyp haben manche Menschen so verinnerlicht, dass die Diskriminierung älterer Arbeitender häufig gar nicht als solche bewertet wird. So ein verinnerlichtes negatives Altersbild kann dazu führen, dass Menschen ihren Beruf früher verlassen anstatt dass sie im Beruf bleiben, um körperlich und geistig fit zu bleiben.

Wie kann man Ageismus vorbeugen?

Wir sollten unsere Aufmerksamkeit gezielt auf die Stärken und Potentiale in dieser Lebensphase richten, ohne die Herausforderungen und Problemlagen zu übersehen. Jüngere Menschen brauchen dazu Kontakte zu alten und sehr alten Menschen, auch jenseits der eigenen Familie. Sich immer wieder im Leben mit den eigenen Erwartungen, Hoffnungen und Wünschen, aber auch mit den Ängsten und Befürchtungen in Bezug auf diese Lebensphase auseinanderzusetzen, hilft letztlich dabei, positive Beziehungen mit älteren Menschen aufzubauen. Und auch dabei, selbst ein gutes und sich sinnhaft anfühlendes Älterwerden zu erleben.