Cannabisblüten vs. Extrakte  – Konsequenzen für die ärztliche Praxis

Es ist im klinischen Alltag eine Herausforderung bei der Vielfalt an verfügbaren Cannabisarzneimitteln den Überblick zu behalten. Neben cannabinoidbasierten Fertigarzneimitteln gewinnen Cannabisblüten und Vollspektrumextrakte zunehmend an Bedeutung. Hierfür stehen zwei wesentlich verschiedene Applikationsformen zur Verfügung: Die Inhalation von Cannabisblüten mit einem medizinischen Vaporisator und die orale Einnahme von Cannabisextrakten, in der Regel in Form von Tropfen. Im folgenden Artikel werden die Pharmakokinetik und Spezifika beider Applikationswege und Beispielanwendungen dargelegt.


Sowohl Cannabisblüten als auch Vollspektrumextrakte sind natürliche Vielstoffgemische, deren Phytocannabinoide Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) als Hauptwirkstoffe medizinisch genutzt werden. Diese liegen in der Cannabispflanze überwiegend als pharmakologisch inaktive Carboxylsäuren vor und werden erst durch Decarboxylierung unter Einwirkung von Hitze in ihre aktive Form umgewandelt. Cannabisblüten werden dafür bevorzugt unter ­Zuhilfenahme eines medizinischen Vaporisators auf 180 bis 210°C erhitzt und inhalativ appliziert. Die präferierte Applikationsart von Vollspektrumextrakten ist die Ingestion öliger Lösungen. Hierbei ist vor der Einnahme kein Erhitzen erforderlich, da die Cannabinoide bereits während der Herstellung decarboxyliert wurden.

Obwohl beide Therapieformen weitestgehend bei identischen Symptomkomplexen eingesetzt werden können, unterscheiden sie sich stark hinsichtlich ihrer pharmakokinetischen Eigenschaften. Daher sollte die Auswahl einer geeigneten Darreichungsform basierend auf der Symptomatik des Patienten, der beabsichtigten Wirkweise und der erforderlichen Wirkdauer getroffen werden. Auch individuelle Präferenzen der Patienten können berücksichtigt werden. Im Folgenden werden beide Administrationsmöglichkeiten dargestellt und abgrenzend beschrieben.

Oral aufgenommenes THC

Oral aufgenommenes THC wird im Darm aufgrund seiner hohen Lipophilie fast vollständig, jedoch langsam resorbiert. Die systemische Bioverfügbarkeit beträgt bei oraler Aufnahme aufgrund des ausgeprägten First-Pass-Metabolismus nur 5 bis 15 %.1,2 Ein Großteil wird in der Leber durch CYP-Enzyme abgebaut, wobei unter anderem der pharmakologisch aktive Metabolit 11-Hydroxy-THC entsteht, welcher für die vergleichsweise lange Wirkung der Peroralia mitverantwortlich ist.3 Der Wirkungseintritt erfolgt 30 bis 90 Minuten nach oraler Aufnahme, erreicht sein Maximum nach etwa 2 bis 3 Stunden und klingt schließlich nach 4 bis 8 Stunden langsam wieder ab.4

Aufgrund des flachen Plasmaspiegels (Abb. 1) ist die Pharmakokinetik der oralen Einnahme von Cannabis vergleichbar mit Retardformulierungen. Da keine Plasmaspiegelspitzen („Peaks“) auftreten, ist das Missbrauchspotential von Extrakten sehr gering. Zu berücksichtigen sind die teils großen inter- und intraindividuellen Schwankungen der Pharmakokinetik, welche unter anderem von genetischen Unterschieden der THC-abbauenden CYP-Enzyme sowie von Art und Zeitpunkt aufgenommener Nahrung abhängig sind. Resorption und Bioverfügbarkeit können beispielsweise durch die gleichzeitige Aufnahme fettreicher Nahrung erhöht werden.5,6 

Inhalativ applizierte Cannabisblüten

HinweisAufgrund dieser Charakteristiken von Cannabisblüten und -extrakten sollten beide Applikationsformen einschleichend und patientenindividuell aufdosiert werden, bis die gewünschte Symptomlinderung erreicht ist. 

Inhalativ applizierte Cannabisblüten werden direkt über die Lunge resorbiert, wodurch der First-Pass-Metabolismus in der Leber umgangen wird. Daher beträgt die systemische Bioverfügbarkeit nach dem Vaporisieren zwischen 30 und 40 %, vereinzelt sogar über 50 %, und ist somit etwa 2 bis 6 mal höher als nach Ingestion.3,4,7 Die Pharmakokinetik der inhalativen Applikation ähnelt den Charakteristika einer intravenösen Injektion. Aufgrund der schnellen Wirkstoffanflutung tritt die Wirkung unmittelbar nach wenigen Sekunden bis Minuten ein. Die Wirkung erreicht ein Maximum nach etwa 15 bis 20 Minuten, und hält mit 2 bis 4 Stunden deutlich kürzer an als nach oraler Aufnahme4,8 (Abb. 1).

Die Halbwertszeit von THC beträgt nach einer ersten raschen Konzentrationsabnahme circa 25 bis 30 Stunden. Bei inhalativer Anwendung sind die inter- und intraindividuellen Unterschiede bezüglich der Bioverfügbarkeit in Abhängigkeit der Inhalationsdurchführung besonders groß. Aus diesem Grund ist es empfehlenswert, den Inhalationsvorgang möglichst reproduzierbar, z. B. eine Inhalation entspricht ca. halbem Lungenvolumen, durchzuführen. 

Pharmakokinetische Eigenschaften von CBD

Die pharmakokinetischen Eigenschaften von CBD ähneln denen des THC, sodass die Wirkstoffe aus pharmakokinetischer Sicht sinnvoll miteinander kombiniert werden können.7,9 Außerdem bietet diese Wirkstoffkombination, im Gegensatz zum monotherapeutischen Ansatz, ein erweitertes Wirkspektrum, da Patienten je nach Beschwerdebild von unterschiedlichen Hauptwirkungen profitieren können6. Während THC vorrangig analgetisch, krampflösend und appetitanregend wirkt,10,11 verfügt CBD über antikonvulsive Effekte sowie anxiolytische und sedative Wirkungen.12,13 Für eine individualisierte Therapie stehen mittlerweile zahlreiche Produkte mit unterschiedlichem THC- und CBD-Verhältnis zur Verfügung.

Therapeutischer Einsatz

Für den therapeutischen Einsatz von Cannabisblüten und -extrakten gibt es keine strikten Vorgaben bezüglich der Indikationsgebiete.14 Aufgrund ihrer pharmakokinetischen Eigenschaften, insbesondere des flachen und langgezogenen Verlaufs des Plasmaspiegels, ist die orale Applikation von Cannabisextrakten als Dauermedikation sehr gut geeignet, beispielsweise bei chronischen Schmerzen. 

Bei CNCP (Chronic Non-Cancer Pain) scheinen oral eingenommene Extrakte Schmerzen effektiver zu reduzieren als inhalative Anwendungen, wobei die maximale Wirkung nach etwa 2 bis 8 Wochen zu erwarten ist.15 Prinzipiell sind jedoch alle Applikationsformen geeignet, Schmerzen zu reduzieren, insbesondere bei neuropathischen Schmerzen11,16 sowie Fibromyalgie.17 Gegen rein nozizeptive Schmerzen wirken Cannabisextrakte nach derzeitigem Wissensstand hingegen nur, wenn sie oral appliziert werden.16 Auch Tumorschmerzen können durch oral appliziertes THC signifikant reduziert werden.16 

Aufgrund der oben beschriebenen pharmakokinetischen Charakteristika ist die ­inhalative Blütentherapie prädestiniert für Erkrankungen, bei denen eine rasche Symptomlinderung erwünscht ist. Hierzu zählt die Akutbehandlung von Schmerzen, beispielsweise bei einschießenden neuropathischen Schmerzen. Für die Therapie von HIV-assoziierten, therapierefraktären neuropathischen Schmerzen stellt die Behandlung mit inhalativen Canna­binoiden eine gut belegte first-line Therapie dar.18 Sowohl bei neuropathischen Schmerzen als auch bei CRPS (Complex-Regional Pain Syndrome) wurde eine ­signifikante Schmerzreduktion schon bei niedrigen THC-Dosen beobachtet, welche nach Vaporisation für mehr als 2 Stunden anhielt.19

Auch bei Kopfschmerzen stellt die inhalative Blütentherapie eine effektive Therapieoption dar, allerdings in Abhängigkeit des THC-Gehalts der Blüten: Sowohl für Migräne als auch für Spannungskopfschmerz konnte ein Benefit nachgewiesen werden, Blütensorten mit hohem THC-Gehalt (10 % und mehr) zeigten jedoch eine bessere Wirksamkeit.20

Ausblick

Cannabinoide gewinnen zunehmend an Bedeutung für die Schmerz- und Palliativmedizin und sind bereits in verschiedensten Applikationsformen in der ärztlichen Praxis angekommen. Cannabisblüten und -extrakte eignen sich aufgrund ihrer unterschiedlichen pharmakokinetischen Eigenschaften hervorragend für eine individualisierte Schmerztherapie, indem der Einsatz der Applikationsformen gezielt an die Schmerzkinetik des Patienten angepasst werden kann. So kann beispielsweise eine Dauermedikation von chronischen Schmerzen mit einem oral verabreichten Extrakt im Akutfall bei Schmerzspitzen mit einer inhalativen Blütentherapie ergänzt werden.

Jedoch gibt es noch keine Blüten und Extrakte aus identischer Grundsubstanz, welche in einer kombinierten oralen und inhalativen Therapie eingesetzt werden könnten, um die Vorteile der jeweiligen Darreichungsformen gezielt zu nutzen. Auch einen Umrechnungsfaktor zwischen Blüten- und Extrakt-Dosierungen, der hilfreich in der ärztlichen Praxis wäre, sucht man derzeit noch vergeblich.

Obwohl zwischen verschiedenen Applikationsformen in den Studienergebnissen noch wenig differenziert wird, nimmt die Evidenz von Cannabisblüten und Vollspektrumextrakten stetig zu. Es lohnt sich, die weitere Entwicklung im Blick zu behalten, damit das Potenzial der Cannabinoide in den unterschiedlichen Einsatzgebieten zukünftig voll ausgeschöpft werden kann.

1 McGilveray, I. J. Pharmacokinetics of cannabinoids. Pain Research and Management (2005) doi:10.1155/2005/242516.

2 Huestis, M. A. Human cannabinoid pharmacokinetics. Chemistry and Biodiversity vol. 4 1770–1804 (2007).

3 Badowski, M. E. A review of oral cannabinoids and medical marijuana for the treatment of chemotherapy-induced nausea and vomiting: a focus on pharmacokinetic variability and pharmacodynamics. Cancer Chemotherapy and Pharmacology (2017) doi:10.1007/s00280-017-3387-5.

4 Häuser, W. Medizinalhanf in der Inneren Medizin, Schmerzmedizin und Palliativmedizin. Arzneiverordnung Prax.45, 23–28 (2018).

5 Bussick, D. & Eckert-Lill, C. Cannabis als Medizin. Was kommt auf die Apotheken zu? Pharmazeutische Zeitung vol. 8 (2017).

 6 Herdegen, T. Cannabis - die Pharmakologie. Dtsch. Apotheker Zeitung49, 58–72 (2020).

7 Meyer, P., Langos, M. & Brenneisen, R. Human Pharmacokinetics and Adverse Effects of Pulmonary and Intravenous THC-CBD Formulations. Med. Cannabis Cannabinoids (2018) doi:10.1159/000489034.

8 Grotenhermen, F. Pharmacokinetics and pharmacodynamics of cannabinoids. Clinical Pharmacokinetics (2003) doi:10.2165/00003088-200342040-00003.

9 Martin-Santos, R. et al. Acute Effects of a Single, Oral dose of d9-tetrahydrocannabinol (THC) and Cannabidiol (CBD) Administration in Healthy Volunteers. Curr. Pharm. Des. (2012) doi:10.2174/138161212802884780.

10 Corey-Bloom, J. et al. Smoked cannabis for spasticity in multiple sclerosis: A randomized, placebo-controlled trial. Cmaj184, 1143–1150 (2012).

11 Whiting, P. F. et al. Cannabinoids for medical use: A systematic review and meta-analysis. JAMA - J. Am. Med. Assoc.313, 2456–2473 (2015).

12 Bergamaschi, M. M. et al. Cannabidiol reduces the anxiety induced by simulated public speaking in treatment-nave social phobia patients. Neuropsychopharmacology36, 1219–1226 (2011).

13 Devinsky, O. et al. Trial of Cannabidiol for Drug-Resistant Seizures in the Dravet Syndrome. N. Engl. J. Med.376, (2017).

14 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung § 31 Abs. 6.

15 Johal, H. et al. Cannabinoids in Chronic Non-Cancer Pain: A Systematic Review and Meta-Analysis. Clin. Med. Insights Arthritis Musculoskelet. Disord.13, (2020).

16 Rabgay, K. et al. The effects of cannabis, cannabinoids, and their administration routes on pain control efficacy and safety: A systematic review and network meta-analysis. J. Am. Pharm. Assoc. (2020) doi:10.1016/j.japh.2019.07.015.

17 Habib, G. & Levinger, U. [CHARACTERISTICS OF MEDICAL CANNABIS USAGE AMONG PATIENTS WITH FIBROMYALGIA]. Harefuah159, 343–348 (2020).

18 Aggarwal, S. K. Cannabinergic pain medicine: A concise clinical primer and survey of randomized-controlled trial results. Clinical Journal of Pain (2013) doi:10.1097/AJP.0b013e31824c5e4c.

19 Almog, S. et al. The pharmacokinetics, efficacy, and safety of a novel selective-dose cannabis inhaler in patients with chronic pain: A randomized, double-blinded, placebo-controlled trial. Eur. J. Pain (United Kingdom)24, (2020).

20 Stith, S. S. et al. Alleviative effects of Cannabis flower on migraine and headache. J. Integr. Med. (2020) doi:10.1016/j.joim.2020.07.004.

 

Dr. Adrian Fischer
Arzt und Mitbegründer und Geschäftsführer bei DEMECAN, dem einzigen unabhängigen deutschen Unternehmen mit der Erlaubnis des Bundesministeriums für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für den Anbau und die Weiterverarbeitung von medizinischem Cannabis.

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