Language of document : ECLI:EU:C:2023:30

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

19. Januar 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Art. 53 Abs. 1 – Notfallsituationen im Pflanzenschutz – Ausnahme – Anwendungsbereich – Mit Pflanzenschutzmitteln behandeltes Saatgut – Neonicotinoide – Wirkstoffe, die erhöhte Risiken für Bienen darstellen – Verbot des Inverkehrbringens und der Verwendung im Freien von Saatgut, das mit solche Wirkstoffe enthaltenden Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde – Durchführungsverordnung (EU) 2018/784 und Durchführungsverordnung (EU) 2018/785 – Keine Anwendbarkeit der Ausnahme – Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier sowie der Umwelt – Vorsorgeprinzip“

In der Rechtssache C‑162/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 16. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 11. März 2021, in dem Verfahren

Pesticide Action Network Europe ASBL,

Nature et Progrès Belgique ASBL,

TN

gegen

État belge,

Beteiligte:

Sesvanderhave SA,

Confédération des Betteraviers Belges ASBL,

Société Générale des Fabricants de Sucre de Belgique ASBL (Subel),

Isera & Scaldis Sugar SA (Iscal Sugar),

Raffinerie Tirlemontoise SA,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. März 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Pesticide Action Network Europe ASBL, der Nature et Progrès Belgien ASBL und von TN, vertreten durch A. Bailleux, Avocat,

–        der Sesvanderhave SA, vertreten durch P. de Jong und S. Lens, Avocats,

–        der Confédération des Betteraviers Belges ASBL, der Société Générale des Fabricants de Sucre de Belgique ASBL (Subel), der Isera & Scaldis Sugar SA (Iscal Sugar) und der Raffinerie Tirlemontoise SA, vertreten durch L. Swartenbroux und L. Vervier, Avocats,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und P. Cottin als Bevollmächtigte im Beistand von S. Depré, M. Lambert de Rouvroit und G. Ryelandt, Avocats,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch E. Tsaousi und A.‑E. Vasilopoulou als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch G. Bain, A.‑L. Desjonquères und T. Stéhelin als Bevollmächtigte,

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,

–        der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Castilla Contreras, A. Dawes und B. Eggers als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. September 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 53 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG des Rates (ABl. 2009, L 309, S. 1).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen zwei Vereinigungen zur Bekämpfung von Pestiziden und zur Förderung der Biodiversität, der Pesticide Action Network Europe ASBL und der Nature et Progrès Belgique ASBL, sowie einem Imker, TN, auf der einen Seite und dem belgischen Staat, vertreten durch den Ministre des Classes moyennes, des Indépendants, des PME, de l’Agriculture et de l’Intégration sociale, chargé des Grandes villes (Minister des Mittelstands, der Selbstständigen, der KMB, der Landwirtschaft und der Sozialen Eingliederung, beauftragt mit den Großstädten) auf der anderen Seite, wegen nationaler Entscheidungen, mit denen zum einen das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln auf der Grundlage von in der Europäischen Union für die Behandlung von Saatgut verbotenen Wirkstoffen und zum anderen der Verkauf und die Aussaat von derart behandeltem Saatgut erlaubt wird.

 Rechtlicher Rahmen

 Richtlinie 2009/128/EG

3        Die Richtlinie 2009/128/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über einen Aktionsrahmen der Gemeinschaft für die nachhaltige Verwendung von Pestiziden (ABl. 2009, L 309, S. 71) bestimmt in Art. 14 Abs. 1:

„Die Mitgliedstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um einen Pflanzenschutz mit geringer Pestizidverwendung zu fördern, wobei wann immer möglich nichtchemischen Methoden der Vorzug gegeben wird, so dass berufliche Verwender von Pestiziden unter den für dasselbe Schädlingsproblem verfügbaren Verfahren und Produkten auf diejenigen mit dem geringsten Risiko für die menschliche Gesundheit und die Umwelt zurückgreifen. Pflanzenschutzverfahren mit geringer Pestizidverwendung schließen den integrierten Pflanzenschutz sowie den ökologischen Landbau … ein.“

 Verordnung Nr. 1107/2009

4        Die Erwägungsgründe 8, 24, 32 und 33 der Verordnung Nr. 1107/2009 lauten:

„(8)      Mit dieser Verordnung soll ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt gewährleistet und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft der Gemeinschaft sichergestellt werden. … Das Vorsorgeprinzip sollte angewandt und mit dieser Verordnung sollte sichergestellt werden, dass die Industrie den Nachweis erbringt, dass Stoffe oder Produkte, die erzeugt oder in Verkehr gebracht werden, keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier oder keine unannehmbaren Auswirkungen auf die Umwelt haben.

(24)      Die Bestimmungen für eine Zulassung müssen ein hohes Schutzniveau gewährleisten. Insbesondere sollte bei Erteilung einer Zulassung für Pflanzenschutzmittel das Ziel, die Gesundheit von Mensch und Tier sowie die Umwelt zu schützen, Vorrang haben vor dem Ziel, die Pflanzenproduktion zu verbessern. Daher sollte, bevor ein Pflanzenschutzmittel in Verkehr gebracht wird, nachgewiesen werden, dass es einen offensichtlichen Vorteil für die Pflanzenerzeugung bringt und keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen, einschließlich der besonders gefährdeten Personengruppen, oder von Tieren sowie keine unannehmbaren Folgen für die Umwelt hat.

(32)      In Ausnahmefällen sollte es den Mitgliedstaaten erlaubt sein, Pflanzenschutzmittel zuzulassen, die nicht die Bedingungen der vorliegenden Verordnung erfüllen, soweit dies erforderlich ist, um eine Gefahr oder Bedrohung für die Pflanzenerzeugung oder die Ökosysteme abzuwenden, die mit anderen angemessenen Mitteln nicht beherrscht werden kann. Solche befristeten Zulassungen sollten auf Gemeinschaftsebene überprüft werden.

(33)      Die Rechtsvorschriften der Gemeinschaft für Saatgut sehen den freien Verkehr mit Saatgut innerhalb der Gemeinschaft vor, enthalten jedoch keine Bestimmungen über Saatgut, das mit Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde. Entsprechende Bestimmungen sollten daher in diese Verordnung aufgenommen werden. Stellt behandeltes Saatgut ein schwerwiegendes Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt dar, so sollten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, Schutzmaßnahmen zu ergreifen.“

5        Art. 1 Abs. 3 und 4 der Verordnung bestimmt:

„(3)      Ziel dieser Verordnung ist die Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt und das bessere Funktionieren des Binnenmarkts durch die Harmonisierung der Vorschriften für das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und die Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion.

(4)      Die Bestimmungen dieser Verordnung beruhen auf dem Vorsorgeprinzip, mit dem sichergestellt werden soll, dass in Verkehr gebrachte Wirkstoffe oder Produkte die Gesundheit von Mensch und Tier sowie die Umwelt nicht beeinträchtigen. …“

6        Art. 2 Abs. 1 der Verordnung sieht vor:

„Diese Verordnung gilt für Produkte in der dem Verwender gelieferten Form, die aus Wirkstoffen, Safenern oder Synergisten bestehen oder diese enthalten und für einen der nachstehenden Verwendungszwecke bestimmt sind:

a)      Pflanzen oder Pflanzenerzeugnisse vor Schadorganismen zu schützen oder deren Einwirkung vorzubeugen, soweit es nicht als Hauptzweck dieser Produkte erachtet wird, eher hygienischen Zwecken als dem Schutz von Pflanzen oder Pflanzenerzeugnissen zu dienen;

Diese Produkte werden als ‚Pflanzenschutzmittel‘ bezeichnet.“

7        In Art. 3 Nrn. 5, 9, 10 und 17 der Verordnung heißt es:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

5.      ‚Pflanzen‘ lebende Pflanzen und lebende Teile von Pflanzen einschließlich der frischen Früchte und der Samen;

9.      ‚Inverkehrbringen‘ das Bereithalten zum Zwecke des Verkaufs innerhalb der Gemeinschaft, einschließlich des Anbietens zum Verkauf oder jeder anderen Form der Weitergabe, unabhängig davon, ob entgeltlich oder unentgeltlich, sowie Verkauf, Vertrieb oder andere Formen der Weitergabe selbst, jedoch nicht die Rückgabe an den früheren Verkäufer. Die Überführung in den freien Verkehr des Gebiets der Gemeinschaft ist ein Inverkehrbringen im Sinne dieser Verordnung;

10.      ‚Zulassung eines Pflanzenschutzmittels‘ einen Verwaltungsakt, mit dem die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats das Inverkehrbringen eines Pflanzenschutzmittels auf dessen Gebiet zulässt;

17.      …

Zur Verwendung in Gewächshäusern, der Behandlung nach der Ernte, der Behandlung leerer Lagerhäuser und der Behandlung von Saatgut bezeichnet der Ausdruck ‚Zone‘ sämtliche in Anhang I festgelegten Zonen“.

8        Art. 28 („Zulassung zum Inverkehrbringen und zur Verwendung“) der Verordnung Nr. 1107/2009 bestimmt in seinem Abs. 1:

„Ein Pflanzenschutzmittel darf nur in Verkehr gebracht oder verwendet werden, wenn es in dem betreffenden Mitgliedstaat gemäß der vorliegenden Verordnung zugelassen wurde.“

9        Art. 29 („Anforderungen für die Zulassung zum Inverkehrbringen“) der Verordnung sieht in seinem Abs. 1 Buchst. a vor:

„Unbeschadet des Art. 50 wird ein Pflanzenschutzmittel nur zugelassen, wenn es entsprechend den einheitlichen Grundsätzen gemäß Abs. 6 folgende Anforderungen erfüllt:

a)      Seine Wirkstoffe, Safener und Synergisten sind genehmigt“.

10      Art. 33 („Antrag auf Zulassung oder Änderung einer Zulassung“) der Verordnung befasst sich in seinem Abs. 2 Buchst. b mit der Behandlung von Saatgut.

11      Art. 40 der Verordnung betrifft die gegenseitige Anerkennung von Zulassungen und befasst sich in seinem Abs. 1 Buchst. c mit der Behandlung von Saatgut.

12      Art. 49 („Inverkehrbringen von behandeltem Saatgut“) der Verordnung Nr. 1107/2009 lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten verbieten nicht das Inverkehrbringen und die Verwendung von Saatgut, das mit Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde, die in mindestens einem Mitgliedstaat für die Verwendung zugelassen sind.

(2)      Bestehen erhebliche Bedenken, dass das behandelte Saatgut gemäß Absatz 1 wahrscheinlich ein schwerwiegendes Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellt und dass diesem Risiko durch Maßnahmen, die der betreffende Mitgliedstaat oder die betreffenden Mitgliedstaaten getroffen hat bzw. haben, nicht auf zufrieden stellende Weise begegnet werden kann, so werden unverzüglich Maßnahmen zur Einschränkung oder zum Verbot der Verwendung und/oder des Verkaufs des entsprechend behandelten Saatguts nach dem in Artikel 79 Absatz 3 genannten Regelungsverfahren getroffen. Bevor die [Europäische] Kommission diese Maßnahmen trifft, prüft sie die Sachlage und ersucht gegebenenfalls die [Europäische] Behörde [für Lebensmittelsicherheit (EFSA)] um ein Gutachten. Die Kommission kann bestimmen, innerhalb welcher Frist dieses Gutachten vorzulegen ist.

(3)      Die Artikel 70 und 71 finden Anwendung.

(4)      Unbeschadet anderer Gemeinschaftsvorschriften über die Kennzeichnung von Saatgut sind auf dem Etikett und in den Begleitdokumenten des behandelten Saatguts die Bezeichnung des Pflanzenschutzmittels, mit dem das Saatgut behandelt wurde, die Bezeichnung(en) des Wirkstoffs/der Wirkstoffe in dem betreffenden Produkt, die Standardsätze betreffend Sicherheitsvorkehrungen … und gegebenenfalls die in der Zulassung für das Produkt vorgesehenen Maßnahmen zur Risikominderung anzugeben.“

13      Art. 53 („Notfallsituationen im Pflanzenschutz“) der Verordnung bestimmt:

„(1)      Abweichend von Artikel 28 kann ein Mitgliedstaat unter bestimmten Umständen für eine Dauer von höchstens 120 Tagen das Inverkehrbringen eines Pflanzenschutzmittels für eine begrenzte und kontrollierte Verwendung zulassen, sofern sich eine solche Maßnahme angesichts einer anders nicht abzuwehrenden Gefahr als notwendig erweist.

Der betroffene Mitgliedstaat informiert unverzüglich die anderen Mitgliedstaaten und die Kommission über seine Maßnahmen und legt detaillierte Informationen zur Situation und zu den Maßnahmen für die Verbrauchersicherheit vor.

(4)      Die Absätze 1 bis 3 gelten nicht für Pflanzenschutzmittel, die genetisch veränderte Organismen enthalten oder daraus bestehen, es sei denn, eine solche Freisetzung ist gemäß der Richtlinie 2001/18/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates (ABl. 2001, L 106, S. 1)] zulässig.“

14      Art. 66 Abs. 1 der Verordnung präzisiert, dass das Wort „Pflanzenschutzmittel“ durch eine genauere Bezeichnung des Produkttyps – etwa „Insektizid“ – ersetzt werden kann.

 Durchführungsverordnung (EU) 2018/784

15      In den Erwägungsgründen 6, 11 und 13 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/784 der Kommission vom 29. Mai 2018 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 540/2011 hinsichtlich der Bedingungen für die Genehmigung des Wirkstoffs Clothianidin (ABl. 2018, L 132, S. 35) heißt es.

„(6)      Die Kommission konsultierte die [EFSA], die am 13. Oktober 2016 ihre Schlussfolgerung zur Risikobewertung von Clothianidin vorlegte … Die [EFSA] ermittelte für die meisten Kulturen ein hohes akutes Risiko für Bienen aufgrund von Pflanzenschutzmitteln mit dem Wirkstoff Clothianidin. Insbesondere im Hinblick auf die Exposition gegenüber Staub ermittelte die [EFSA] ein hohes akutes Risiko für Bienen bei Wintergetreide; ein hohes chronisches Risiko für Bienen bei Zuckerrüben kann nicht ausgeschlossen werden. Aufgrund der Aufnahme von Rückständen in kontaminiertem Pollen und Nektar bestehen bei den meisten Feldanwendungen hohe akute und chronische Risiken bzw. kann ein hohes Risiko nicht ausgeschlossen werden. Bei allen Feldanwendungen bestehen auch in den Folgekulturen chronische und akute Risiken für die Bienen. Für Forstbaumschulen legten die Antragsteller keine Daten vor, weshalb ein Risiko für die Bienen nicht ausgeschlossen werden kann. Außerdem stellte die [EFSA] mehrere Datenlücken fest.

(11)      … Im Hinblick auf die notwendige Gewährleistung eines Sicherheits- und Schutzniveaus, das mit dem hohen Niveau des Schutzes der Tiergesundheit übereinstimmt, das innerhalb der [Europäischen] Union erreicht werden soll, sollten alle Anwendungen im Freien verboten werden. Die Anwendung von Clothianidin sollte daher auf dauerhaft errichtete Gewächshäuser beschränkt werden, und die entstehende Kultur sollte während des gesamten Wachstumszyklus in einem dauerhaft errichteten Gewächshaus bleiben müssen und nicht im Freien ausgepflanzt werden dürfen.

(13)      Unter Berücksichtigung der Risiken für Bienen im Zusammenhang mit behandeltem Saatgut sollten das Inverkehrbringen und die Verwendung von Saatgut, das mit Clothianidin enthaltenden Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde, denselben Beschränkungen unterliegen wie die Anwendung von Clothianidin. Saatgut, das mit Clothianidin enthaltenden Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde, sollte daher nur in Verkehr gebracht oder verwendet werden, wenn es ausschließlich zur Ausbringung in dauerhaft errichteten Gewächshäusern bestimmt ist und die daraus entstandene Pflanzenkultur während des gesamten Wachstumszyklus in einem dauerhaft errichteten Gewächshaus bleibt.“

16      Art. 2 („Verbot des Inverkehrbringens und der Verwendung von behandeltem Saatgut“) der Durchführungsverordnung lautet:

„Saatgut, das mit Clothianidin enthaltenden Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde, darf nur in Verkehr gebracht oder verwendet werden, wenn

a)      das Saatgut ausschließlich zur Ausbringung in dauerhaft errichteten Gewächshäusern bestimmt ist und

b)      die daraus entstandene Pflanzenkultur während des gesamten Wachstumszyklus in einem dauerhaft errichteten Gewächshaus bleibt.“

 Durchführungsverordnung (EU) 2018/785

17      Der Wortlaut der Erwägungsgründe 11 und 13 sowie von Art. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/785 der Kommission vom 29. Mai 2018 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 540/2011 hinsichtlich der Bedingungen für die Genehmigung des Wirkstoffs Thiamethoxam (ABl. 2018, L 132, S. 40) ist identisch mit dem der Erwägungsgründe 11 und 13 sowie von Art. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2018/784, abgesehen davon, dass in der einen Verordnung auf den Wirkstoff Thiamethoxam und in der anderen auf den Wirkstoff Clothianidin Bezug genommen wird.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18      Gemäß der Vorlageentscheidung handelt es sich bei Clothianidin und Thiamethoxam um Wirkstoffe der Familie der Neonikotinoide, die in der Landwirtschaft als Insektizide zur Applikation auf Saatgut eingesetzt werden.

19      Diese 1991 von der Kommission zugelassenen Substanzen wurden aufgrund der Risiken für Bienen und im Hinblick auf die notwendige Gewährleistung eines Sicherheits- und Schutzniveaus, das mit dem hohen Niveau des Schutzes der Tiergesundheit übereinstimmt, das innerhalb der Union erreicht werden soll, seit dem Jahr 2013 Einschränkungen unterworfen, zunächst durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 485/2013 der Kommission vom 24. Mai 2013 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 540/2011 hinsichtlich der Bedingungen für die Genehmigung der Wirkstoffe Clothianidin, Thiamethoxam und Imidacloprid sowie des Verbots der Anwendung und des Verkaufs von Saatgut, das mit diese Wirkstoffe enthaltenden Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde (ABl. 2013, L 139, S. 12), danach durch die Durchführungsverordnungen 2018/784 und 2018/785. Letztere sehen u. a. ein Verbot des Inverkehrbringens und der Verwendung von Saatgut vor, das mit den Wirkstoffen Clothianidin und Thiamethoxam behandelt wurde, sofern dieses nicht ausschließlich für Pflanzenkulturen bestimmt ist, die während ihres gesamten Wachstumszyklus in dauerhaft errichteten Gewächshäusern bleiben, so dass die daraus entstandene Pflanzenkultur nicht im Freien ausgepflanzt wird.

20      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass die Zulassung von Clothianidin am 31. Januar 2019 ablief und die von Thiamethoxam am 30. April 2019, weil die Antragsteller ihre jeweils auf Verlängerung der Zulassung für diese Wirkstoffe gerichteten Anträge zurücknahmen, so dass die Nutzung dieser Stoffe seither in der Union verboten ist.

21      Am 19. Oktober 2018 ließen die belgischen Behörden, gestützt auf die in Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 vorgesehene Ausnahme, vorübergehend das Inverkehrbringen des Chlothianidin enthaltenden Pflanzenschutzmittels „Poncho Beta“ der Bayer AG und des Thiamethoxam enthaltenden Pflanzenschutzmittels „Cruiser 600 FS“ von Syngenta für die Behandlung von Saatgut von Zuckerrüben zu.

22      Mit Schreiben vom 7. Dezember 2018 wurden vier weitere vorübergehende Zulassungen für das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln mit diesen Wirkstoffen für mit diesen Produkten behandeltes Saatgut erteilt, nämlich für Saatgut von Zuckerrüben, Karotten, Kopfsalat, Chicorée, Radicchio rosso und Zuckerhut.

23      Am 21. Januar 2019 erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens beim vorlegenden Gericht Klage und beantragten die Aussetzung sowie die Nichtigerklärung der Zulassungen.

24      Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen im Wesentlichen geltend, dass die Neonikotinoide inzwischen zunehmend im Wege der Applikation auf dem Saatgut derart angewandt würden, dass sie nicht auf die Kultur versprüht, sondern vor der Aussaat vorbeugend auf das Saatgut aufgetragen würden. Die Landwirte kauften also Saatgut, das bereits mit diese Wirkstoffe enthaltenden Pflanzenschutzmitteln behandelt sei, ohne dass ein tatsächliches Auftreten der mit diesen Produkten bekämpften Insekten bestätigt wäre.

25      Den Klägern des Ausgangsverfahrens zufolge haben sowohl das Europäische Parlament als auch die Kommission Bedenken geäußert, weil die Mitgliedstaaten zunehmend von der in Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 vorgesehenen Ausnahme Gebrauch machten und missbräuchlich in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren Notfallzulassungen erteilten, ohne dass tatsächlich eine Gefahr für die Kulturen bestanden habe, um das Pflanzenwachstum zu regulieren oder ihre Ernte bzw. ihre Lagerung zu erleichtern. Angesichts neuer wissenschaftlicher Daten zu der toxischen Wirkung von Clothianidin und Thiamethoxam auf Bienen habe die Kommission für Saatgut, das mit Pflanzenschutzmitteln überzogen sei, die diese Wirkstoffe enthielten, den Verkauf und die Nutzung im Freien untersagt.

26      Der Ministre des Classes moyennes, des Indépendants, des PME, de l’Agriculture et de l’Intégration sociale, chargé des Grandes villes (Minister des Mittelstands, der Selbstständigen, der KMB und der Landwirtschaft und der Sozialen Eingliederung, beauftragt mit den Großstädten) machte beim vorlegenden Gericht u. a. geltend, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens nicht dargetan hätten, inwiefern die von ihnen vorgetragenen Daten relevant seien. Im Übrigen hätten sie auch nicht vorgetragen, wodurch ein Verbot der Verwendung dieser Produkte unter den Bedingungen, die in den in Rede stehenden Zulassungen vorgesehen seien, gerechtfertigt wäre.

27      Das vorlegende Gericht hegt Zweifel in Bezug auf den Anwendungsbereich von Art. 53 der Verordnung Nr. 1107/2009 und hinsichtlich der Reichweite der darin vorgesehenen Ausnahme.

28      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 53 der Verordnung Nr. 1107/2009 dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat erlaubt, unter bestimmten Voraussetzungen eine Zulassung für die Behandlung von Saatgut mit Pflanzenschutzmitteln, den Verkauf oder die Aussaat von mit Pflanzenschutzmitteln behandeltem Saatgut zu erteilen?

2.      Kann, falls die erste Frage bejaht wird, Art. 53 der Verordnung Nr. 1107/2009 unter bestimmten Voraussetzungen auf Pflanzenschutzmittel angewandt werden, die Wirkstoffe enthalten, deren Inverkehrbringen oder Verwendung in der Union eingeschränkt oder verboten ist?

3.      Erfassen die in Art. 53 der Verordnung Nr. 1107/2009 geforderten „bestimmten Umstände“ Situationen, in denen der Eintritt einer Gefahr nicht gewiss, sondern nur plausibel ist?

4.      Erfassen die in Art. 53 der Verordnung Nr. 1107/2009 geforderten „bestimmten Umstände“ Situationen, in denen das Auftreten einer Gefahr vorhersehbar, gewöhnlich und sogar zyklisch ist?

5.      Ist der in Art. 53 der Verordnung Nr. 1107/2009 verwendete Ausdruck „anders nicht abzuwehrenden“ so auszulegen, dass er, angesichts des achten Erwägungsgrundes der Verordnung, der Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt einerseits und der Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft der Gemeinschaft andererseits gleiche Bedeutung beimisst?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten und zur zweiten Frage

29      Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 dahin auszulegen ist, dass er einem Mitgliedstaat – vorbehaltlich der Einhaltung der darin vorgesehenen Bedingungen – erlaubt, das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln zur Behandlung von Saatgut sowie das Inverkehrbringen und die Verwendung von mit diesen Produkten behandeltem Saatgut zuzulassen, obwohl das Inverkehrbringen und die Verwendung von mit diesen Produkten behandeltem Saatgut ausdrücklich mit einer Durchführungsverordnung untersagt wurden.

30      Wie in den Rn. 19 und 20 des vorliegenden Urteils ausgeführt, wurden das Inverkehrbringen und die Verwendung im Freien von Saatgut, das mit Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde, die u. a. die Wirkstoffe Clothianidin und Thiamethoxam enthalten, die Gegenstand der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zulassungen sind, mit den Durchführungsverordnungen 2018/784 bzw. 2018/785 verboten.

31      Konkret sehen diese Durchführungsverordnungen in ihrem jeweiligen Art. 2 vor, dass Saatgut, das mit Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde, die diese Wirkstoffe enthalten, nur in Verkehr gebracht oder verwendet werden darf, wenn es ausschließlich zur Ausbringung in dauerhaft errichteten Gewächshäusern bestimmt ist und die daraus entstandene Pflanzenkultur während des gesamten Wachstumszyklus in einem dauerhaft errichteten Gewächshaus bleibt.

32      Eine solche Beschränkung der Verwendung dieser Wirkstoffe in dauerhaft errichteten Gewächshäusern, die zur Folge hat, dass die daraus entstandene Pflanzenkultur nicht im Freien ausgepflanzt wird, ist – wie in den Erwägungsgründen 11 bzw. 13 der Durchführungsverordnungen zum Ausdruck kommt – durch die Risiken, die Saatgut, das mit diese Wirkstoffe enthaltenden Pflanzenschutzmitteln behandelt wurde, für die Bienen darstellt, und durch die notwendige Gewährleistung eines Sicherheits- und Schutzniveaus gerechtfertigt, das mit dem hohen Niveau des Schutzes der Tiergesundheit übereinstimmt, das innerhalb der Union erreicht werden soll.

33      Die Fragen des vorlegenden Gerichts beziehen sich also auf die Möglichkeit des Inverkehrbringens von Pflanzenschutzmitteln zur Behandlung von Saatgut sowie des Inverkehrbringens und der Verwendung von Saatgut, das abweichend von einem auf der Grundlage von Art. 49 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1107/2009 erlassenen ausdrücklichen Verbot mit diesen Produkten behandelt wurde.

34      Zunächst ist zu betonen, dass es sich bei Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 um eine Ausnahme von der in Art. 28 Abs. 1 der Verordnung verankerten Grundregel handelt, dass ein Pflanzenschutzmittel nur auf den Markt gebracht oder verwendet werden darf, wenn es im betreffenden Mitgliedstaat gemäß dieser Verordnung zugelassen wurde. Nach gefestigter Rechtsprechung sind Ausnahmen jedoch eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. März 2021, Agrimotion, C‑912/19, EU:C:2021:173, Rn. 28).

35      Im Übrigen sind nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a., C‑528/16, EU:C:2018:583, Rn. 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Was zunächst den Wortlaut von Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 betrifft, so geht daraus hervor, dass diese Vorschrift „[a]bweichend von Art. 28“ der Verordnung Anwendung findet.

37      Insoweit präzisiert Art. 28 Abs. 1 der Verordnung, dass ein Pflanzenschutzmittel nur in Verkehr gebracht oder verwendet werden darf, wenn es in dem betreffenden Mitgliedstaat gemäß der vorliegenden Verordnung zugelassen wurde. In Art. 28 Abs. 2 der Verordnung werden die Fälle genannt, in denen keine Zulassung erforderlich ist.

38      Gemäß Art. 29 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1107/2009 wird ein Pflanzenschutzmittel nur nach Art. 28 Abs. 1 der Verordnung zugelassen, wenn u. a. die Wirkstoffe, aus denen es besteht, genehmigt sind.

39      Folglich dürfen die Mitgliedstaaten nach Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 – vorbehaltlich der Einhaltung der darin vorgesehenen Bedingungen – das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln zulassen, die nicht von einer Genehmigungsverordnung umfasste Stoffe enthalten. Dagegen lässt der Wortlaut dieser Vorschrift nicht den Schluss zu, dass diese Mitgliedstaaten auf diese Weise von den Regelungen der Union abweichen dürfen, die das Inverkehrbringen und die Verwendung von mit Pflanzenschutzmitteln behandeltem Saatgut ausdrücklich untersagen.

40      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber mit Art. 49 der Verordnung Nr. 1107/2009 in diese eine „Bestimmung“ im Sinne des 33. Erwägungsgrundes dieser Verordnung aufgenommen hat, die mit Pflanzenschutzmitteln behandeltes Saatgut betrifft. Gemäß Art. 49 Abs. 2 werden, wenn erhebliche Bedenken bestehen, dass das in einem Mitgliedstaat mit für diese Verwendung zugelassenen Pflanzenschutzmitteln behandelte Saatgut wahrscheinlich ein schwerwiegendes Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellt und dass diesem Risiko durch Maßnahmen, die der betreffende Mitgliedstaat oder die betreffenden Mitgliedstaaten getroffen hat bzw. haben, nicht auf zufrieden stellende Weise begegnet werden kann, unverzüglich Maßnahmen zur Einschränkung oder zum Verbot der Verwendung und/oder des Verkaufs des entsprechend behandelten Saatguts getroffen.

41      Maßnahmen, die gemäß Art. 49 der Verordnung Nr. 1107/2009 erlassen werden, sind daher mit Pflanzenschutzmitteln behandeltes Saatgut betreffende spezifische Maßnahmen. Allerdings ist festzustellen, dass dem Wortlaut von Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 nicht zu entnehmen ist, dass er von Art. 49 Abs. 2 der Verordnung oder von den Maßnahmen abweicht, die gemäß dieser Bestimmung erlassen werden, da Art. 53 Abs. 1 nur Art. 28 der Verordnung erwähnt.

42      Was sodann den Kontext angeht, in den sich Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 einfügt, ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber im 32. Erwägungsgrund der Verordnung auf die für die Mitgliedstaaten bestehende Möglichkeit Bezug genommen hat, in Ausnahmefällen Pflanzenschutzmittel zuzulassen, die nicht die Bedingungen der Verordnung erfüllen.

43      Zwar geht aus diesem Erwägungsgrund hervor, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten erlauben wollte, Pflanzenschutzmittel oder – im vorliegenden Fall – mit diesen behandeltes Saatgut zuzulassen, ohne die in der Verordnung vorgesehenen Bedingungen einzuhalten, doch ist diesem Erwägungsgrund nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber den Mitgliedstaaten erlauben wollte, von einem ausdrücklichen Verbot solchen Saatguts abzuweichen.

44      Weiter ist festzustellen, dass die Auslegung von Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009, wie sie Rn. 39 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, dadurch gestützt wird, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2009/128 verpflichtet sind, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um den Pflanzenschutz mit geringer Pestizidverwendung zu fördern, wobei wann immer möglich nicht chemischen Methoden der Vorzug gegeben wird, so dass berufliche Verwender von Pestiziden unter den für dasselbe Schädlingsproblem verfügbaren Verfahren und Produkten auf diejenigen mit dem geringsten Risiko für die menschliche Gesundheit und die Umwelt zurückgreifen.

45      Schließlich ist festzustellen, dass die in den Durchführungsverordnungen 2018/784 und 2018/785 vorgesehenen Verbotsmaßnahmen unter Berücksichtigung der in deren jeweiligem elften Erwägungsgrund angeführten notwendigen Gewährleistung eines Sicherheits- und Schutzniveaus erlassen wurden, das mit dem hohen Niveau des Schutzes der Tiergesundheit übereinstimmt, das innerhalb der Union erreicht werden soll.

46      Solche Verbote entsprechen also dem Ziel der Verordnung Nr. 1107/2009, das gemäß Art. 1 Abs. 3 und 4 der Verordnung u. a. darin besteht, ein hohes Niveau des Schutzes der Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt zu gewährleisten, was auch im achten Erwägungsgrund der Verordnung zum Ausdruck kommt.

47      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmungen auf dem Vorsorgeprinzip beruhen, das eine der Grundlagen der Politik eines hohen Schutzniveaus ist, die die Union gemäß Art. 191 Abs. 2 Unterabs. 1 AEUV im Bereich der Umwelt verfolgt, um zu verhindern, dass in Verkehr gebrachte Wirkstoffe oder Produkte die Gesundheit von Mensch und Tier sowie die Umwelt beeinträchtigen.

48      Zudem sollten, wie im 24. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1107/2009 ausgeführt, die Bestimmungen betreffend die Zulassung ein hohes Schutzniveau gewährleisten, und bei der Erteilung einer Zulassung für Pflanzenschutzmittel sollte das Ziel, die Gesundheit von Mensch und Tier sowie die Umwelt zu schützen, „Vorrang haben“ vor dem Ziel, die Pflanzenproduktion zu verbessern (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Mai 2022, R. en R. [Landwirtschaftliche Verwendung eines nicht zugelassenen Mittels], C‑189/21, EU:C:2022:360, Rn. 42 und 43).

49      Daher sollte, wie in diesem Erwägungsgrund ausgeführt, bevor ein Pflanzenschutzmittel in Verkehr gebracht wird, nicht nur nachgewiesen werden, dass es einen offensichtlichen Vorteil für die Pflanzenproduktion bringt, sondern auch, dass es keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen oder von Tieren hat.

50      Wäre Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 dahin auszulegen, dass er das Inverkehrbringen und die Verwendung von mit Pflanzenschutzmitteln behandeltem Saatgut zulässt, obwohl dieses Inverkehrbringen und diese Verwendung nach Bewertung durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit Gegenstand einer ausdrücklichen Verbotsmaßnahme waren, so wäre zum einen eine solche Auslegung – wie in den Rn. 46 und 47 des vorliegenden Urteils ausgeführt – unvereinbar mit dem Ziel der Verordnung. Zum anderen hätte bei einer solchen Auslegung die Verbesserung der Pflanzenproduktion Vorrang gegenüber dem Schutz vor Gefahren für die Gesundheit von Menschen und Tieren sowie für die Umwelt, die eine Verwendung von mit nachweislich schädlichen Pflanzenschutzmitteln behandeltem Saatgut hervorrufen kann; dies widerspräche den Ausführungen in Rn. 48 des vorliegenden Urteils.

51      Insoweit ist zu betonen, dass die Verbotsmaßnahmen, wie sie in den Durchführungsverordnungen 2018/784 und 2018/785 vorgesehen sind, von der Kommission unter Einhaltung strenger Bedingungen erlassen werden, da von mit Pflanzenschutzmitteln behandeltem Saatgut eine schwere Gefahr für die Umwelt und die Gesundheit von Menschen oder Tieren ausgehen kann.

52      Wie im sechsten Erwägungsgrund der Durchführungsverordnung 2018/784 ausgeführt, hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit u. a. ermittelt, dass für die meisten Kulturen ein hohes akutes Risiko und ein hohes chronisches Risiko für Bienen aufgrund der Verwendung von Pflanzenschutzmitteln mit dem Wirkstoff Clothianidin besteht, insbesondere durch die Exposition gegenüber Staub und aufgrund der Aufnahme von Rückständen in kontaminiertem Pollen und Nektar. Ebenso unterstreicht der 13. Erwägungsgrund der Durchführungsverordnung 2018/785 die Gefahr, die für Bienen durch von Pflanzenschutzmitteln mit dem Wirkstoff Thiamethoxam behandeltem Saatgut ausgeht.

53      Weiter ist festzustellen, dass diese Auslegung von Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 nicht nur für das Inverkehrbringen und die Verwendung von Saatgut gilt, das mit durch Durchführungsverordnungen ausdrücklich verbotenen Pflanzenschutzmitteln – im vorliegenden Fall für die Aussaat dieses Saatguts – behandelt wurde, sondern auch für das Inverkehrbringen solcher zur Behandlung dieses Saatguts bestimmter Pflanzenschutzmittel.

54      Nach alledem sind die erste und die zweite Frage dahin zu beantworten, dass Art. 53 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 dahin auszulegen ist, dass er einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln zur Behandlung von Saatgut sowie das Inverkehrbringen und die Verwendung von mit diesen Produkten behandeltem Saatgut zuzulassen, wenn das Inverkehrbringen und die Verwendung von mit diesen Produkten behandeltem Saatgut ausdrücklich mit einer Durchführungsverordnung untersagt wurden.

 Zu den Fragen 3 bis 5

55      In Anbetracht der Antworten auf die erste und die zweite Frage sind die Vorlagefragen drei bis fünf nicht zu beantworten.

 Kosten

56      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 53 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG des Rates

ist dahin auszulegen, dass

er einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln zur Behandlung von Saatgut sowie das Inverkehrbringen und die Verwendung von mit diesen Produkten behandeltem Saatgut zuzulassen, wenn das Inverkehrbringen und die Verwendung von mit diesen Produkten behandeltem Saatgut ausdrücklich mit einer Durchführungsverordnung untersagt wurden.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.