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Herr Özdemir, in Deutschland sind mehr als die Hälfte der Erwachsenen übergewichtig. Bis 2040 werden voraussichtlich zwölf Millionen Menschen an Diabetes erkrankt sein. Ist Ernährung Privatsache oder unternehmen Sie auch etwas dagegen?

Cem Özdemir: Natürlich entscheidet jede und jeder für sich selbst, wie sie oder er einkauft oder sich ernährt. Der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft macht keine Rezeptvorgaben. Aber er macht sich Sorgen – und handelt.

Wie meinen Sie das?

Menschen, die arm sind oder etwa wie ich aus einer Arbeiterfamilie kommen und dessen Eltern keine Akademiker waren, entwickeln häufiger Übergewicht und Diabetes. Eine ungesunde Ernährung ist ja nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung, oftmals fehlen Wissen, Möglichkeiten und auch das Angebot. Anders gesagt: Wer ungesund isst, tut das nicht immer freiwillig, die Ernährungsumgebung hat darauf Einfluss und das gilt natürlich ganz besonders für Kinder.

Die Gesundheit nimmt Schaden und mitunter bedeutet das einen immensen Verlust an Lebensqualität. Die Problematik spiegelt sich auch im Gesundheitswesen wieder, das wir ja alle mitfinanzieren müssen. Allein durch Adipositas entstehen bei uns gesamtgesellschaftliche Kosten in Höhe von 63 Milliarden – pro Jahr.

Um zumindest Kinder zu schützen, haben Sie einen Plan für ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel vorgelegt. Unter anderem soll an unter 14-Jährige gerichtete Werbung von 6 bis 23 Uhr auf allen Kanälen verboten werden.

Wie wir uns ernähren, wird im Kindesalter geprägt – darum müssen wir hier ansetzen. Werbung beeinflusst das Konsumverhalten, besonders bei Kindern. Sie erkennen Werbung häufig nicht als solche und können die Folgen unausgewogener Ernährung nicht abschätzen.

Eltern wurden da bisher ziemlich allein gelassen. Unser Gesetzentwurf sieht klare und verbindliche Regeln für Lebensmittelwerbung vor, damit Kinder gesund groß werden können. Darum hat sich die Koalition darauf verständigt, die an Kinder gerichtete Werbung für Produkte mit zu hohem Fett-, Zucker- und Salzgehalt zu regulieren. Wir orientieren uns an den wissenschaftlichen Kriterien der Weltgesundheitsorganisation. Und weil manche jetzt gezielt die Unwahrheit verbreiten: Man kann solche Produkte auch weiterhin verkaufen – und sogar bewerben, aber eben nicht mehr auf Kosten der Kinder.

Kritiker sagen, dass die Werbung keinen Einfluss auf das Kaufverhalten hätte.

Für wie dumm halten die Leute, die dieses Argument anbringen, die Bürgerinnen und Bürger eigentlich? Die Industrie gibt doch keine Milliarden für Werbung aus, wenn sie nichts bringt! Natürlich wissen wir alle, dass es wirkt, wenn etwa ein Fußballer für einen Schokoaufstrich wirbt. Und das Schlimme: Diese Sachen würde er selbst nie essen, weil er sonst Stress mit dem Ernährungsberater seines Vereins bekommt, weil es sich auf seine Leistung auswirkt.

Dennoch: Niemand wird gezwungen, Ungesundes zu essen. Was ist aus der Eigenverantwortung geworden?

Mit denselben Argumenten hat man früher über das Rauchen oder den Sicherheitsgurt geredet. Ich gehöre zu denjenigen, die gerne gemeinsam mit der Wirtschaft Lösungen finden. Doch freiwillige Vereinbarungen und Selbstverpflichtungen der Wirtschaft haben nichts gebracht.

Kinder sind das Wertvollste, das wir haben – wir müssen sie schützen. Als Mutter oder Vater komme ich gegen die allgegenwärtige Werbeflut nicht allein an – es sei denn, ich lasse die Kinder nicht mehr aus der Wohnung, schaffe den Fernseher ab und nehme ihnen das Handy weg. Kinder schützen und die Eltern unterstützen, darum geht es.

Sie sind Vater von zwei Kindern. Wie haben Sie zuhause bei dem Thema aufgeklärt?

Wir haben viele Gespräche geführt, die aber auch nicht immer von Erfolg gekrönt waren. Ich esse selbst auch gerne mal ein Stück Schokolade. Worum es mir geht: Ich will eine Ernährungsumgebung schaffen, in der jeder – unabhängig von Herkunft, Geldbeutel oder Bildungsgrad – eine Chance hat, gesund aufzuwachsen. Das haben wir gegenwärtig nicht, wenn Kinder zu jeder Zeit und auf allen Kanälen gezielt mit Werbung konfrontiert werden.

Aber die Lobby versucht Ihr Vorhaben zu stoppen.

Einige Leute verdienen sehr gut und haben kein Interesse, sich umstellen zu müssen. Laut Umfragen unterstützen aber 85 Prozent der Bevölkerung eine Werberegulierung. Und ich weiß ein breites Bündnis hinter mir: die Weltgesundheitsorganisation, Kinderärzte, Wissenschaft, Verbraucherschutz, Adipositas- und Diabetesgesellschaften, Krankenkassen und Elternverbände und viele mehr.

Das scheint die Wirtschaft nicht zu überzeugen.

Zu denen sage ich: Kommen Sie aus der Schmollecke und machen Sie mit. Die Lebensmittelindustrie kann Rezepturen verändern und so auch einen Beitrag zur Gesundheit der Kinder leisten. Die Werberegulierung ist ja noch ein vergleichsweise moderates Mittel.

Laut freiwilliger Selbstverpflichtung der Industrie soll der Zuckergehalt in Softdrinks bis 2025 um 15 Prozent sinken. Was planen Sie, wenn das nicht klappt?

Wir arbeiten hier wissenschaftsbasiert. Mit einem umfangreichen Monitoring können wir genau feststellen, ob Zucker-, Fett- und Salzgehalte in unseren Lebensmitteln sinken oder nicht. Ich würde mich freuen, wenn die Industrie handelt, ohne dass der Gesetzgeber eingreifen muss.

Ein weiterer Hebel für eine gesündere Ernährung könnte eine Abschaffung der Mehrwertsteuer bei gesunden Lebensmitteln sein. Das haben Sie in der Vergangenheit schon mal gefordert. Was ist daraus geworden?

Für mich ist das Thema noch nicht vom Tisch. Meiner Meinung nach müsste das Mehrwertsteuersystem grundsätzlich reformiert werden.

Und warum machen wir das nicht?

Darüber entscheidet vor allem der Finanzminister. Ich habe einen Vorschlag gemacht, mit dem wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könnten: Keine Mehrwertsteuer bei Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten würde den Geldbeutel entlasten und zu einer gesünderen Ernährung führen.

Zu Ihrer Ernährungsstrategie gehört auch 30 Prozent Bio bei Außer-Haus-Verpflegung. Was hat es damit auf sich?

Ich möchte, dass die Gemeinschaftsverpflegung besser wird. Der Bund geht mit seinen Kantinen als gutes Beispiel voran. 17 Millionen Menschen essen in Deutschland täglich auswärts – etwa in der Kantine, Mensa, Schulküche oder Kita. Ich setze mich dafür ein, dass dort saisonale, regionale und pflanzliche Produkte angeboten werden – und mehr Bio. Das hat auch mit Wertschätzung zu tun.

Wie meinen Sie das?

Menschen, die etwa hart in der Fabrik arbeiten, sollten ein leckeres und gesundes Essen bekommen. Und es ist auch kein Geheimnis, dass Kinder, die ein gesundes Mittagessen bekommen, besser lernen. Auch das Essen im Krankenhaus muss dringend besser werden. Da soll man doch gesünder herausgehen als man hineinkam. Die Ernährung spielt dabei eine wichtige Rolle. Dass man darüber überhaupt reden muss, in der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt, will mir nicht in den Kopf.

Man merkt, das ärgert und beschäftigt sie.

Ja. Jedes Kind sollte mindestens einmal am Tag in Kindertagesstätte oder Schule ein gesundes, gutes Essen nach den Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung bekommen. Das ist eine Aufgabe für die ganze Politik! – und nicht nur für den Bundesernährungsminister.

Ganz konkret: Wie wollen Sie das schaffen?

Die DGE-Standards sollen bis 2030 zu allgemeinverbindlichen Mindeststandards werden. Bisher orientieren sich Bundesländer und Kommunen freiwillig daran.

Aber wie wollen Sie die Menschen motivieren, sich gesund zu ernähren?

Gesundes Essen hat mit Lebensqualität und Genuss zu tun – das muss man vermitteln. Warum setzen wir da nicht in Kita und Schule an? Jeder sollte wissen, wo sein Essen herkommt. Ich bin ein Fan davon, dass gerade Stadtkinder mal ein Praktikum auf dem Bauernhof machen. Wetten, die kommen anders zurück? Erstens wissen sie dann die Arbeit der Landwirtinnen und Landwirte zu schätzen. Und zweitens werden sie später mit anderen Augen einkaufen.

Aber im Supermarkt sind viele überfordert. Wer gesund und nachhaltig einkaufen will, muss viel recherchieren. Wie wollen Sie Abhilfe schaffen?

Das hat viel mit Verbraucherinformation zu tun. Das Bio-Siegel hat europaweit schon zu mehr Transparenz geführt. Auch der Nutri-Score hilft zu erkennen, wie ausgewogen Produkte sind, also ob sie zu viel Fett, Salz und Zucker enthalten. Wir wollen diese Kennzeichnung noch aussagekräftiger machen, dafür werden gerade die Vorgaben unter anderem für Getränke überarbeitet.

National wollen wir ein verpflichtendes Tierhaltungskennzeichen einführen, mit dem man überall zuverlässig erkennt, wie ein Tier gehalten wurde, dessen Fleisch man gerade kauft. Verbraucherinnen und Verbraucher bekommen damit beim Einkauf eine echte Wahl für mehr Tierschutz.

Werbebeschränkungen, mehr Bio, Tierhaltungskennzeichen: Sie haben sich viel vorgenommen …

… und ich bin davon überzeugt, dass sich Wirtschaftsinteressen, die Gesundheit der Menschen und Umweltschutz miteinander vereinbaren lassen. Vielleicht braucht es da mehr Entschlossenheit und Kreativität. Ich habe beides.


Quellen:

  • BMEL: Mehr Kinderschutz in der Werbung: Pläne für klare Regeln zu an Kinder gerichteter Lebensmittelwerbung. https://www.bmel.de/... (Abgerufen am 03.02.2023)