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Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland: Erste Bewertung durch die Expert*innengruppe GREVIO

Gelobt wird außerdem die explizite Kriminalisierung von technologieunterstützter geschlechtsspezifischer Gewalt, wie beispielsweise Cyberstalking. © iStock/libre de droit

· Meldung

Die Expert*innengruppe GREVIO (Group of experts on action against violence against women and domestic violence) hat am 7. Oktober 2022 ihren ersten Bewertungsbericht zum Stand der Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) in Deutschland veröffentlicht.

Seit ihrem Inkrafttreten in Deutschland am 1. Februar 2018 verpflichtet die Istanbul-Konvention alle staatlichen Stellen dazu, die Anforderungen zur Prävention und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt umzusetzen. Dabei sieht die Konvention einen Mechanismus zur Überwachung ihrer Implementierung vor. Die Evaluierung der Umsetzung wird durch die Expert*innengruppe GREVIO (Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence) durchgeführt. Deren nun veröffentlichter Bericht ist das Ergebnis des ersten Evaluierungsverfahrens. Darin werden sämtliche von Deutschland ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung aller Formen geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und von häuslicher Gewalt, untersucht. Geschlechtsspezifische Gewalt umfasst körperliche, psychische, wirtschaftliche und sexualisierte sowie die digitale Dimension von Gewalt.

GREVIO begrüßt Strafrechtsänderungen

Die Expert*innengruppe begrüßt unter anderem eine Reihe von Strafrechtsänderungen. Hierbei wird die Einführung der "Nein heißt Nein"-Regel besonders hervorgehoben, die jede sexuelle Handlung gegen den erkennbaren Willen des Opfers unter Strafe stellt. Deutschland wird aber auch ermutigt, die Anforderungen aus Artikel 36 Absatz 2 der Istanbul-Konvention weiter umzusetzen und alle nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen zu kriminalisieren. Gelobt wird außerdem die explizite Kriminalisierung von technologieunterstützter geschlechtsspezifischer Gewalt, wie beispielsweise Cyberstalking, das unbefugte Fotografieren privater Körperteile, das Teilen von Bildern im Internet und die Verwendung von Stalkerware. Außerdem wird die vom Bundeskriminalamt seit 2016 veröffentlichte Statistik und die damit verbundenen Anstrengungen zur Sichtbarmachung von Partnerschaftsgewalt positiv hervorgehoben.

GREVIO-Empfehlungen zur vollständigen Umsetzung der Istanbul-Konvention

GREVIO stellt jedoch auch erhebliche Umsetzungsdefizite fest und formuliert eine Reihe von Empfehlungen zur vollständigen Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland.

  • Insbesondere werden Defizite bei der landesweiten Koordinierung der Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung sämtlicher Formen geschlechtsspezifischer Gewalt gesehen. In diesem Zusammenhang fehle es bisher an der Entwicklung einer langfristigen und umfassenden Strategie. Positiv wird zwar angemerkt, dass die meisten Bundesländer eigene Aktionspläne verabschiedet haben. Diese könnten jedoch eine allumfassende Strategie auf nationaler Ebene nicht ersetzen.
  • Auch die ad-hoc-Arbeitsgruppen, wie etwa die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Häusliche Gewalt“, seien in diesem Zusammenhang nicht ausreichend. Aus Sicht der Expert*innengruppe wird diese Situation dadurch verschärft, dass bislang keine nationale Koordinierungsstelle eingerichtet wurde, obwohl dies in Artikel 10 der Konvention vorgeschrieben ist. Die verschiedenen Arbeitsgruppen von Bund und Ländern seien zwar ein erster Schritt hin zu einer verbesserten Koordinierung, könnten aufgrund ihrer ad-hoc-Natur jedoch nicht als nationale Koordinierungsstelle verstanden werden.
  • Die Expert*innengruppe betont zudem, dass die Vorbeugung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt eine evidenzbasierte Datengrundlage erfordert. Zwar würden in Deutschland zahlreiche relevante Daten von verschiedenen Institutionen gesammelt. Diese seien jedoch derartig fragmentiert, dass eine vollständige Erfassung von geschlechtsspezifischer Gewalt und häuslicher Gewalt nicht möglich ist. Damit bliebe die Datenerhebung derzeit hinter der Anforderung aus Artikel 11 der Istanbul-Konvention zurück. Die Expert*innengruppe fordert Deutschland daher auf, sicherzustellen, dass die von allen relevanten Akteuren, namentlich Strafverfolgungsbehörden, Justizbehörden und Gesundheits- und Sozialdiensten, erhobenen Daten (mindestens) nach Geschlecht und Alter der Betroffenen und der Täter*innen, ihrer Beziehung, ihres geografischen Standorts und der Art der Gewalt aufgeschlüsselt sowie harmonisiert werden.
  • Erhebliche Umsetzungsdefizite werden ferner im Bereich der Aus- und Weiterbildung von Angehörigen von Berufsgruppen, die mit Opfern oder Täter*innen von geschlechtsspezifischer Gewalt zu tun haben, festgestellt. Um den Vorgaben aus Art. 15 Abs. 1 der Istanbul-Konvention zu entsprechen, bedürften insbesondere Richter*innen, Staatsanwält*innen und Mitarbeiter*innen der Gesundheits- und Sozialdienste eines breiter aufgestellten und systematisch verankerten Schulungsprogramms. Notwendig sei dies unter anderem, um die in Justiz und bei den Strafverfolgungsbehörden bestehenden und viele Gerichtsverfahren bestimmenden Geschlechterstereotype und Vergewaltigungsmythen abzubauen. Im Bereich der Familiengerichtsbarkeit führe die fehlende Sensibilisierung zudem dazu, dass bei Sorge- und Umgangsstreitigkeiten die Rechte und Sicherheit der Betroffenen von häuslicher Gewalt oft nicht ausreichend beachtet würden.
  • Sicherheitsbedenken für von Gewalt betroffene Personen äußert GREVIO auch in anderen Bereichen. So gebe es einen Mangel an Schutzräumen für Betroffene von häuslicher Gewalt.
  • Zudem müssten die bestehenden Barrieren beim Zugang zu Beratungs- und Schutzstrukturen, wie etwa Kostenfragen oder Beschränkungen hinsichtlich einer bestehenden Behinderung, des Aufenthaltsstatus, der Altersgrenze oder der Anzahl der begleitenden Kinder, abgebaut und auf eine gleichmäßigere geografische Verteilung geachtet werden.
  • Ferner seien weibliche Asylsuchende in Aufnahmeeinrichtungen nicht immer ausreichend geschützt. Es fehle teilweise an der Berücksichtigung der besonderen Umstände derjenigen, die vor geschlechtsspezifischer Verfolgung geflohen sind oder Formen sexueller oder geschlechtsspezifischer Gewalt erlebt haben. Neben geflüchteten Frauen sollten auch die Bedürfnisse anderer besonders vulnerabler Gruppen, wie etwa Frauen und Mädchen mit Behinderung, lesbischen, bisexuellen sowie intergeschlechtlichen und trans Frauen und Mädchen, stärker berücksichtigt werden.

Bund, Länder und Kommunen sind nun aufgerufen, die Empfehlungen von GREVIO umzusetzen. Sie sollten dabei die Expertise der Zivilgesellschaft einbeziehen.

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